rosette-Bild der Vollkommenheit Notre Dame, F: pixabay

Notre Dame - Baumeister für Europa gesucht

Schwer beschädigt, aber nicht zerstört, so lautete der Befund der Fachleute, nachdem das Feuer in der Kathedrale Notre Dame de Paris gelöscht und die Grundmauer inspiziert waren. Ein Kommentar von Bernd Sterzelmaier.

Welche Symbolik von der 800 Jahre alten Kirche ausgeht, wurde noch am Abend des 15. April deutlich, als der französische Präsident Emmanuel Macron auf der Île de la Cité im Angesicht der Flammen vor laufenden Kameras in die Mikrofone sprach. „Ich schwöre Ihnen: Wir alle zusammen werden diese Kathedrale wieder aufbauen“, sagte er. Am Tag darauf wurde er in einer Fernsehansprache noch deutlicher, indem er das Ziel formulierte, den Wiederaufbau innerhalb von fünf Jahren zu vollenden. Vermutlich hatte er – ohne es auszusprechen – das Jahr 2024 im Sinn, wenn Paris nach 1900 und 1924 zum dritten Mal Gastgeber der Olympischen Spiele sein wird.

Symbol für europäische Kultur

Doch dieser Zusammenhang scheint wie eine Kleinigkeit im Vergleich zu den Parallelen, die sich zwischen dem Großbrand und dem Zustand von Frankreich und Europa ziehen lassen. „Notre Drame“, Unser Drama, so schrieb die französische Tageszeitung Libération auf der Titelseite am Tag nach dem verheerenden Feuer. „Unser Herz in Asche“, hieß es in der katholischen Tageszeitung La Croix.
Die Kirche Notre Dame de Paris ist nicht nur ein Symbol des christlichen Frankreichs, sondern für „unsere europäische Kultur“, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel ausdrückte. Das Bauwerk ist viel mehr als ein sakraler Ort. Als „Geschichtsbuch aus Stein“ steht es für die wichtigen Etappen der französischen und europäischen Geschichte seit dem Mittelalter. Dort krönte sich Napoléon am 2. Dezember 1804 zum Kaiser, und Papst Pius VII. musste zuschauen. Am 25. August 1944,  nach der Befreiung von deutschen Truppen, wehte auf dem Eiffelturm und Triumphbogen die Tricolore, und es läuteten die Glocken von Notre Dame als Zeichen der „Libération“.

Die Kirche auf der Insel in der Seine wird pro Jahr von 14 Millionen Touristen bewundert: Christen, Muslime, Juden, Buddhisten, Hindus und Menschen, die nicht an einen Gott glauben. Sie staunen über die Leistungen der Baumeister und über Symbole der Christenheit, die in der Kirche aufbewahrt werden. Niemand fragt danach, ob die Dornenkrone „echt“ ist, die Jesus schon vor seiner Kreuzigung tragen musste. Reliquien und Glauben sind untrennbar. Im Prinzip ist jede Kirche, ist jedes Kruzifix eine Reliquie.
Insofern ist Notre Dame ein Symbol des christlich geprägten Europas, das gerade dort am deutlichsten hervortritt, wo sich die sakralen und profanen Erscheinungsformen nur schwer trennen lassen.

Reims – das religiöse Herz

Wer das geistliche Herz Frankreichs sucht, der muss in die Kathedrale von Reims gehen. Dort ließ sich der Frankenkönig Chlodwig im Jahr 498 taufen und wurde so zum ersten christlichen Herrscher dieses Reiches, das Frankreich mit der Hauptstadt Paris genannt werden wird.
Dabei hat die Kathedrale von Reims über diese starke sakrale Bedeutung hinaus ihre weltliche Ausstrahlung. Dieses Symbol der französischen Nation wurde wenige Tage nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs im September 1914 von deutschen Truppen schwer beschädigt und nach dem Krieg neu aufgebaut. Über Mainz, Bamberg und Erfurt haben dessen Dombaumeister eine architektonische Spur gelegt, die bis Naumburg an der Saale führt.

Wiederaufbau eine europäische Aufgabe

Die Gotik hat die europäische Baukunst geprägt. Der Sachverstand von Baumeistern aus aller Herren Ländern wird in den nächsten Jahren in Paris gefragt sein. So wie sich das Frankenreich gebildet hat, bleibt es – über alle Kriege hinweg – die Blaupause für das Überwinden nationaler Grenzen. Was die Schüler östlich des Rheins über Karl den Großen lernen, erfahren westlich des Rheins ihre Alterskameraden über Charlemagne. Erst auf den zweiten Blick wird Kindern und Jugendlichen klar, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Niemand fragt danach, ob Karl/Charles einen deutschen oder einen französischen Pass in der Tasche hatte. Nicht nur an diesem Beispiel wird deutlich, dass nationale Grenzen das Denken insgesamt begrenzen. Eine europäische Geschichte, eine europäische Kultur und ein europäischer Wirtschaftsraum lassen sich nur dann begreifen, wenn grenzenlos gedacht und gehandelt wird. Die Montanunion als Vorläufer von EWG, EG, und EU folgen diesem Prinzip. Vielleicht gehört es zu den großen Hindernissen auf dem Weg zu einer Vertiefung der Europäischen Union, dass sich diese Denkweise nicht in allen 28 Mitgliedsstaaten der EU durchgesetzt hat. In den Beziehungen zwischen dem EU-Mitglied Griechenland und dem Nachbarland Nord-Mazedonien spielte Alexander der Große eine ähnliche Rolle wie Karl der Große für Deutsche und Franzosen. Erst das gegenseitige Eingeständnis auf beiden Seiten der Grenze, dass Alexander der Große niemandem und allen gehört, führte zur Entspannung. In den vergangenen Monaten gab es Streit über die Frage, ob Leonardo da Vinci Italiener oder Franzose war. Fest steht, dass er am 15. April 1452 in der Toskana geboren wurde, als es Italien als Nation noch nicht gab. Gestorben ist er am 2. Mai 1519 – also vor 500 Jahren – im Schloss Clos Lucé in Amboise an der Loire. Die Mona Lisa, sein wohl bekanntestes Werk, hängt im Louvre. Der Streit ließe sich einfach beilegen, wenn Grenzen keine Rolle spielen würden: Dann wäre Leonardo ganz einfach ein europäisches Universalgenie.

Europa in der Krise

Zurück nach Paris, zurück auf die Île de la Cité: Wenige Tage vor der Europawahl ist das Feuer im Dachstuhl von Notre Dame ein Symbol für den Zustand von Frankreich und für den Zustand der Europäischen Union. Das hat wiederum nichts mit dem „Point Zero“ zu tun, der Metallscheibe, die auf dem Platz vor dem Kirchenportal eingelassen ist. Sämtliche Kilometerangaben im französischen Straßennetz beziehen sich auf diesen Punkt. An einem „Nullpunkt“ scheinen zeitweise die deutsch-französischen Beziehungen und im Brexit-Gewirr die Europaidee angekommen zu sein. Wer „Point Zero“ allerdings mit „Bezugspunkt“ übersetzt, kann hoffen. Deutschland und Frankreich haben am 22. Januar mit dem Aachener Vertrag ihre Freundschaft bekräftigt, die auf den Tag genau 56 Jahre zuvor in Paris mit dem Eylsée-Vertrag begründet wurde. In Paris hat sich vor wenigen Tagen die deutsch-französische Parlamentsversammlung konstituiert, was die Besonderheiten der Beziehungen verdeutlicht. Doch die Europawahl am 26. Mai, so auch die Unsicherheiten, die der Brexit mit sich bringt, sowie die Neuordnung der internationalen Beziehungen stellen die beiden Nachbarländer vor Herausforderungen, wie sie im vergangenen Jahrhundert nicht abzusehen waren.

Der Riss durch die Gesellschaft

Symbolisch sind auch die gelben Westen, mit denen Tausende von Franzosen seit Herbst 2018 auf den Straßen sind. Die Warnwesten müssen getragen werden, wenn ein Auto nach einer Panne oder nach einem Unfall liegenbleibt und die Insassen nicht von nachfolgenden Fahrzeugen überrollt werden sollen. Überrollt werden vom gesellschaftlichen Wandel, das ist die Angst, die viele Menschen in Europa verunsichert. Nach dem Brand in der Kirche lässt in Frankreich die Wut auf den Staat nicht nach. Wo ist das Dach, das uns schützt? Fragen die Obdachlosen und die Gelbwesten? Woher kommen eine Milliarde Euro für den Wiederaufbau von den Superreichen, die ständig erzählen, es sei kein Geld da für Kinderkrippen und Schulen, Löhne und Renten?
Als am 15. April die Feuerwehr alarmiert wurde, wollte Präsident Macron gerade die Rede aufzeichnen lassen, in der er sich nach der „Grand Débat National“ zu seinen weiteren Reformplänen äußern wollte. Diese Rede wurde zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben. Schon am 10. Dezember hatte er in einer Fernsehansprache vom „ökonomischen und sozialen Notstand“ gesprochen. Er versprach zehn Milliarden Euro, um unter anderem Mindestlohn und Renten erhöhen zu können.

Um im Bild zu bleiben und bei „Notre Drame“: Frankreich und Europa sind schwer beschädigt, aber nicht zerstört. „Batir un Europe, qui protège“, ein Europa bauen, das seine Bürger schützt, das verlangt Präsident Macron. Für diese Projekt fehlen ihm noch die Baumeister.

Ein Kommentar von Bernd Sterzelmaier.


Kategorie: Kirche

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