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Warum *man* heute sonntags nicht mehr in die Kirche geht

Die leeren Kirchenbänke in der Sonntagsmesse sind nicht zwingend ein Zeichen dafür, dass die Menschen keine Verbindung zum Glauben oder zur Kirche mehr haben, sondern dass unser individueller Alltag nicht mehr zum unpersönlichen Konstrukt einer „6+1 Woche“ passt. Wir arbeiten nicht mehr sechs Tage, um am siebten Tag in die Kirche zu gehen.

Kollektiver Glaube

Für die Generation meiner Eltern und Großeltern sowie für die Generationen davor war es ganz selbstverständlich, dass man am Sonntag in die Kirche ging. Das unpersönliche man zeigt, dass diese Tradition schon beinahe gesetzmäßige Gültigkeit hatte. Man trat den Gang zur Kirche gemeinsam als Dorf- oder Pfarrgemeinde an. Das Individuum verschmolz zur Gemeinde. In der Raumdimension dieser Generation waren „Dienstleistung“ und Konsum fraglos mit einem bestimmten Raum verknüpft. Um Wissen zu erlangen ging man in eine Bibliothek, um Waren zu kaufen in einen Laden und um Gott zu begegnen in die Kirche. Wie schon hunderte Jahre zuvor war es im Wochenrhythmus verankert, dass nach sechs Tagen der Arbeit der siebte Tag für die Religionsausübung reserviert war. Durch den sonntäglichen Gang zur Kirche erübrigte sich auch der Kalender. Die Woche, das Jahr erhielt mit den Sonn- und Feiertagen seine Struktur.

Individueller Glaube

Wenn ich heute sonntags in die Kirche gehe, dann, weil ich mich bewusst dazu entschlossen oder mich eben bewusst dagegen entschieden habe. Pfarrgemeinden sind heute pastorale Räume von einer Größe, dass man als individuelle Person darin verschwindet anstatt mit ihnen zu verschmelzen. Wenn ich oft nicht einmal mehr den Nachbarn von gegenüber kenne, wie soll ich zu dem Menschen, der zufällig in der Bank mit mir sitzt, eine Beziehung aufbauen. Die Zeitdimension unseres Alltags passt längst nicht mehr in den Wochenrhythmus, in dem der Gottesdienst seinen festen Platz hatte. Arbeit am Wochenende, zu allen möglichen Tages- und Nachtseiten sind für Freelancer und Schichtarbeiter Normalität. Verkaufsoffene Sonntage, Freizeit- und Sportveranstaltungen, der Sonntag hat längst seinen Status als Ruhetag verloren. Unsere Gewohnheiten sind zu individuell und sprunghaft, als dass sich Religion und Glaube auf einen festen Ort oder eine bestimmte Zeit fixieren lassen könnten. Wir können unterwegs einkaufen, fernsehen, sogar die Waschmaschine bedienen. Wieso muss ich dann unbedingt am Sonntag in der Kirche sein, um meinen Glauben zu praktizieren? Finde ich bei einem Waldspaziergang nicht genauso eine Verbindung zu Gott? Kann ich bei einer Tasse Kaffee auf dem Sofa nicht ebenso in mich gehen und mit Gott sprechen?

Gemeinde ohne Gemeinschaft?

Die kirchliche Gemeinschaft stellt dies vor eine ungemeine Herausforderung. Glaube lebt von der Gemeinschaft. Davon, dass Menschen zusammen die Sache bekräftigen und nach Außen stellen, an die sie glauben. Gemeinden und pastorale Verbünde machen den zweiten Schritt vor dem ersten, wenn sie versuchen die Gläubigen wieder in die Kirche holen. Zuerst müssen sie die Menschen in die Gemeinschaft einwurzeln. Dazu müssen sie sich bewusstmachen, dass es nicht mehr die Gläubigen sind, die ihren Alltag nach der Kirche richten, sondern sich die Kirche nach dem Alltag der Gläubigen richten müssen. Ein Konflikt, der in dieser Thematik unweigerlich auftaucht ist die Generationenfrage der Gläubigen. Die Bedingungen haben sich durch die digitalen Medien entscheidend verändert. Der digitale Schub, den alle Teile unserer Gesellschaft durch die Corona Pandemie erlebt haben, hat gezeigt, dass Gemeinschaft und aktives Miteinander nicht an physische Orte, Uhrzeiten und Zeitzonen gebunden ist. Gleichzeitig haben die Wochen, in denen die Kirchen geschlossen waren ebenfalls deutlich gemacht, wie sehr die physische Präsenz in der Kirche langfristig vermisst wird. Für viele der Generation unserer Großeltern wird der Sonntag erst durch die Feier der Heiligen Messe zu einem „richtigen“ Sonntag. Für viele Gläubigen, die aufgrund ihres Alters nicht Teil der digitalen Welt sind, ist die Sonntagsmesse oftmals die einzige Gelegenheit im Alltag sich zu einer Gemeinschaft dazugehörig zu fühlen, soziale Interaktion zu betreiben.

Hybride Gemeinden

In dieser Hinsicht sind viele Kirchengemeinden durch die Pandemie kreativ geworden. Sonntägliche Live-Streams von Messen ohne Gemeinde, die während des Lockdowns entstanden sind, werden beibehalten, auch wenn die Gemeinden mittlerweile wieder mitfeiern. Mit diesen hybriden Gottesdienstformen, die sowohl die treuen Kirchgänger, als auch die, die morgens lieber im Bett bleiben wollen, erreichen, wird ein Signal gesetzt, dass Gott nicht nur hinter Kirchenmauern, sondern auch über Glasfaser erreichbar ist. Wenn ich einen Gottesdienst aus meiner Heimatgemeinde mitfeiere, ein bekanntes Gesicht sehe, fühle ich als Teil der Gemeinde dazugehörig, auch wenn ich auf dem Papier längst nicht mehr zu dieser Gemeinde gehöre. Aktive Gemeindearbeit und –Zugehörigkeit kann und wird in Zukunft nicht mehr nur in einem begrenzten Raum stattfinden können. Kirchengemeinden, in pastoralen Räumen organisiert, sollten daher zuerst die Tatsache akzeptieren, dass man sonntags halt nicht mehr in die Kirche geht, sondern dass es ein Ich gibt, das dennoch gerne Teil der kirchlichen Gemeinschaft sein will.

Die Autorin ist Mitglied der Chefredaktion von kath.de sowie des Vorstands von publicatio e.V., der explizit.net herausgibt.

 

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Kategorie: explizit.net Kirche

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