Deutschland im Umbau F: explizit.net

Zweimal Deutschland

Deutschland ist in sich gespalten. Was bei unserem Nachbarn Polen A und Polen B genannt wird, gibt es auch in Deutschland, nämlich neben den Erfolgreichen diejenigen, die sich abgehängt fühlen. Sie haben in der AFD die Partei gefunden, die ihre Stimmung nicht nur mit höheren Sozialausgaben ändern will, sondern mit der Rückkehr zu einer früheren Identität. Wird dieser Teil der Bevölkerung die zukünftige Politik bestimmen?

Was in Deutschland sich abzeichnet, ist in Polen, England, den USA, in Italien längst parlamentarische Wirklichkeit: Rückzug auf das eigene Land, Distanzierung von internationalen Institutionen, Skepsis gegen die Globalisierung. In den USA werden die prosperierenden Regionen mit der internationalen Verflechtung und den neuen digitalen  Technologien von den Abgehängten regiert. Das Land wird nicht mehr von New York und Kalifornien bestimmt, sondern von den ehemaligen an Stahl und Kohle orientierten Regionen. Ebenso in England ist die bestimmende Größe nicht mehr der internationale Finanzplatz London, sondern die Regionen der früheren Industrien. Für Polen ist die politische Landschaft mit dem A und B-Bevölkerungsgruppen in Kaczynskis 4. Republik beschrieben.
In Bayern scheint die Synthese von den neuen digitalen Technologien, von Flugzeugbau und BMW mit Folklore nicht mehr zu funktionieren. Zumindest scheint die CSU das nicht mehr zu garantieren.

Der Preis des Wohnens

Der befürchtete Verlust der Heimat, also der Identität von Lebensraum, existentieller Sicherheit und Zugehörigkeit zu einer gewachsenen Kultur wird am Thema Mieten durchdiskutiert. Wenn nur noch gut Verdienende in den von den neuen Technologien getriebenen Regionen leben dürfen, dann ist das Verlust von Heimat.

Die Identität verschwimmt

Wie in anderen Ländern meldet sich in Deutschland ein großer Teil der Bevölkerung zu Wort, der bisher geschwiegen hat. Es ist nicht wirtschaftliche Not, aber die Angst, vom technischen Wandel überrollt zu werden. Die einen, die sich wie Fische im Wasser der neuen Technologien bewegen, die das mit dieser Technologie verbundene Englisch beherrschen, die die Mieten bezahlen können und die anderen, die das Tempo nicht mithalten können, haben wenig miteinander zu tun. Die einen "machen" die Welt, die anderen fühlen diese Welt nicht mehr als ihre Heimat. Die forsche Modernisierung, zu der sich alle getrieben fühlen, kristallisiert sich in der Person von Christian Lindner. Sein und seiner Partei Einknicken, für das Ganze Verantwortung zu übernehmen, hat dem verunsicherten Teil der Bevölkerung gezeigt, die die Antreiber des Wandels sich die Steuerung des Prozesses nicht mehr zutrauen. Die SPD, die wohl mehr noch als die Linke in den Denkmustern einer vergangenen Industrieepoche stecken geblieben ist, wurde vor für sie unlösbare Aufgaben gestellt. Doch nicht allein die SPD ist zum veralteten Inventar geworden.

Die fehlende Integrationskraft der Institutionen

Die alte Bundesrepublik stellte sich in CDU und SPD, in den Kirchen, den Sozialverbänden, den Gewerkschaften und Unternehmensverbänden dar. Irgendwie dazwischen gab es den Kulturbetrieb. Das Ensemble von  Verlagen, Akademien, Theater, Oper-Konzertsälen war, anders als in Frankreich allenfalls Zugabe zu dem, was die Bundesrepublik bedeutete. Kultur kann deshalb zu der jetzigen Suche nach einer deutschen Identität kaum etwas beitragen. Die Buchmesse bildet mit ihren immer mehr reduzierten Ausstellungsflächen den Bedeutungsverlust ab. Die Kirchen fallen als gesellschaftlich tragende Größen fast vollständig aus. Und jetzt hat der Trend auch die CSU erreicht. Weder Kardinal Marx noch Markus Söder, beide in der industriellen und kulturelle Metropole führen ihre Mitglieder in eine neue gesellschaftliche Verantwortung. Man lässt sich der AfD treiben, anstatt die Ängste aufzugreifen, die sich in dieser Partei artikulieren. Es gibt nicht nur eine große Anzahl von Bayern, die diese Partei wählen, sondern ebenso eine größere Zahl von Katholiken als diejenigen, die damals die NSDAP gewählt haben. In den USA haben die Katholiken, die früher die Demokraten gewählt haben, zu etwas über 50% für Trump ihren Wahlschein in die Urne geworfen.

Die Veränderungen in den Tiefenschichten

Wie das Wetter mehr von den Bewegungen in Luftschichten bestimmt wird, die über den Wolkenformationen liegen, so die Gesellschaft von tieferliegenden Entwicklungen. Eine Wetterstation für die diese Tiefenströmungen ist das Sinusinstitut 10 verschiedene Kulturen in Deutschland, die Milieus bezeichnet werden. Seit den neunziger Jahren werden diese Untersuchungen durchgeführt. Damals gab es nur 5 solcher Milieus. Entscheidender noch ist die Größe der Mitte. Sie ist von 44% auf 13% eingeschmolzen. Irgendwoher mussten ja die 5 neuen Milieus kommen. Diese schmelze der Mitte ist die eigentliche Ursache für das erlahmen der Volkskirchen. In den Neunzigern fühlten sich die Mitglieder der Bürgerlichen Mitte noch stark genug, die anderen in die eine Bundesrepublik zu integrieren, heute erleben sich die Kirchgänger als Minderheit.
Die Sinus-Karte zeigt, dass die AfD falsch liegt, wenn sie im rückwärts die deutsche Identität neu finden will. Die anderen sollten die Sinuskarte studieren. Sie werden feststellen, dass sich mit den Traditionellen, den Prekären und einem Teil der Bürgerlichen Mitte an die 40% der Bevölkerung „abgehängt“ fühlen dürften. Das kann man nicht mehr mit Geld zukleistern, es verlangt ein neues Modell für die Republik, in das die Geschichte der Neuen Bundesländer mit mehr Gewicht eingebaut werden muss. Die Partien, die die das öffentliche-rechtlich Hörfunk und Fernsehen dominieren, könnten hier mehr Kräfte freisetzen als sie parteipolitisch vereinnahmen. Die Kirchen sind mit Caritas und Diakonie präsent, sie sollten deren Solidaritätsprinzipien übernehmen und aufhören, sich in ihren Strukturen festzubeißen. Es gibt nicht nur für die angefangene Woche viel zu tun. .  

PolenA und Polen B sind beschrieben in Kaczynskis 4. Republik  
Die Milieukarte des Sinusinstituts



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