Dom Magdeburg Foto: explizit.net E.B.

Will Gott überhaupt, dass Millennials beten?

Ein Gefühl verbindet die Millennials und andere junge Erwachsene: Ich bin für alles verantwortlich in meinem Leben, der Strom an Aufgaben hört nie auf. Ist die berufliche To-Do-Liste einmal kurz abgearbeitet, warten schon die nächsten Lebensnotwendigkeiten des Erwachsenseins. Wo können bei dieser Grundstimmung Transzendenz und Spiritualität vorkommen? Wie passen Gottesbeziehung und Gebet zwischen diese Lebensgefühle?

Der Druck der Selbstoptimierung

Als Millennial, erst recht als Freiberufler in medialen Berufen, fühle ich mich ständig auf dem Weg zur nächsten Verpflichtung. Wenn ich diese Aufgabe noch erledige, mich noch besser präsentiere und noch einmal unter Wert verkaufe, kommt sicher der berufliche Durchbruch, der Erfolg. Wenn ich jetzt hier aufräume, dann bin ich endlich mit mir selbst, meiner Partnerschaft, meiner Wohn- und Lebenssituation zufrieden, dann ist meine Gesundheit für eine Weile gesichert, Ordnung in meinen Steuerunterlagen und im Kleiderschrank. Wenn ich diese Tipps von Instagram befolge, gelingen endlich meine Beziehungen perfekt, komme ich endlich zu Entspannung und Ruhe. Wenn ich diese WhatsApp noch beantworte, jetzt noch ein letztes Mal durch Instagram scrolle, kann ich endlich gut einschlafen. Aber halt, den Podcast noch ein bisschen hören, mit Schlaf-Timer, damit ich beim Einschlafen abgelenkt bin und nicht von meinen Sorgen wachgehalten werde. Dann ist es irgendwann mal gut, ich kann mal abschalten, schlafen, entspannen, nichts tun, relaxen – dann habe ich das Millennial-Leben-Chaos einmal für kurze Zeit im Griff und unter Kontrolle und muss auf nichts antworten, habe eine leere ToDo-Liste, darf den Computer ausschalten, kann das Smartphone weglegen.

Meine Aufmerksamkeit wird ständig beansprucht

Noch dazu habe ich Typ 1 Diabetes und muss mich daher 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche andauernd um meine Gesundheit kümmern. Der Diabetes hört niemals auf, wenn ich mich abends nach einem 12-Stunden-Tag auf dem Sofa entspannen will, muss ich mich schon wegen des Abendessens um meinen Blutzucker kümmern, nachts piepen die Glukose-Alarme oder es genügt schon die Sorge um zu niedrige oder zu hohe Werte, um den Schlaf zu verschlechtern und morgens wie gerädert aufzuwachen.
Corona setzt dem Ganzen die Krone auf: Seit inzwischen 14 Monaten ständige Angst vor Ansteckungen, Frust wegen hoher, immer wieder steigender Infektionszahlen, Ärger über teils widersprüchliche und als sinnlos erlebte Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, kaum noch Ablenkung und Aktivitäten außer Haus, wenig unverzweckte, absichtslose Zeit, Kontaktverlust mit Freund*innen, weniger berufliche Aufträge, erschwerte Arbeitsbedingungen, noch mehr Zeit am Bildschirm, Zoom-Müdigkeit – kurz: ein gigantisches Corona-Burnout.

Dem Millennial-Burnout entgehen

Ich möchte gerne loslassen, wenigstens für kurze Zeit für nichts verantwortlich sein, nur da sein und wahrnehmen, keine Entscheidungen treffen, für eine Weile nicht auf die Zwänge des Alltags eingehen, nicht daran denken, mich auch nicht auf die nächste Aufgabe vorbereiten, sondern wirklich gar nichts tun. Ich gönne mir das fast nie. Je stressiger der Alltag ist, desto weniger nehme ich mir Auszeiten. So geht es vielen jungen Erwachsenen heute, auch unter nicht-freiberuflichen, nicht-diabetischen Lebensbedingungen. Nicht selten kommen wir körperlich und seelisch an unsere Grenzen. Inzwischen geistert schon das Wort vom „Millennial-Burnout“ durch die Medien.
Nie zur Ruhe kommen, ständig online sein, abgelenkt, dauer-gestresst – so geht es mir und so geht es vielen jungen Erwachsenen heute. Mit dem Smartphone geht zu jeder Tages- und Nachtzeit alles: Arbeiten, Karriere machen, mich selbst optimieren. Kommunikation, Unterhaltung und Konsum, Pornografie. Ohne das Haus zu verlassen, nicht einmal das Bett.

Muss für mich selbst Gott sein

2018 befragte das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche die Jahrgänge 1991 bis 1999 zu ihren Lebens- und Glaubenswelten. Auffälligstes Ergebnis – der Satz: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“

Eine Teilnehmerin sagte: „Ich kann nicht an Gott glauben, denn wenn ich recht überlege, bin ich ja selbst Gott. Ich bin für alles verantwortlich, was in meinem Leben passiert. Etwas anderes gibt es nicht.“

Diese Stimmungen beschrieb schon die großartige Sophia Fritz mit Anfang 20 in ihrem Buch „Gott hat mir nie das Du angeboten“ (Herder, 2019), vom Alter her gehört sie fast zur Generation Z, der Nachfolge-Generation der Millennials: Einen siebten Tag der Woche, einen Ruhetag, an dem wir mal gar nichts machen, erleben wir eigentlich nicht mehr.
Millennials und andere junge Erwachsene hätten aber gerne Räume und Zeiten, in denen wir nicht für alles selbst verantwortlich sind. Darin stecken für viele auch spirituelle, sogar religiöse Sehnsüchte. Die Autorin Sophia Fritz schreibt: „Ich möchte wieder nicht erreichbar sein. Ich möchte wieder Zeit für Langsamkeit haben. Was mir fehlt: Die Fähigkeit, einmal wirklich nicht kommunizieren zu können“. Die damals 22-Jährige illustriert das Phänomen mit dem biblischen Schöpfungsbericht:

„Gottes Erschöpfung am siebten Tag hat eine Unanfechtbarkeit, die ich mir selbst abspreche. Ich habe keine Entschuldigung dafür, nach sechs Tagen erschöpft zu sein. Gott durfte nach sechs Tagen erschöpft sein, aber da gab es ja noch keine Meditations-Apps, keine Abgabefristen, kein Koffein, keine Yoga-Kurse, keinen Skiurlaub und keinen Zeitdruck. In meinem Leben gibt es keine siebten Tage. Gott schenkt uns einen Tag der Ruhe, aber ich könnte auch aufarbeiten, was die ganze Woche liegen geblieben ist“.

Wie würde ich also als Millennial beten?

Wie soll ich vor Gott zur Ruhe kommen? Wie soll das gehen, bei so viel Stress, Unruhe, Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen? Gott kann doch gar kein Gebet von mir wollen, wenn es in mir so chaotisch, frustriert, gestresst ist. Wenn ich mich mit Freund*innen treffe, um eine schöne Zeit zu haben, möchte ich mich ihnen auch nicht gestresst und mit mieser Laune vorsetzen. Warum sollte das bei Gott anders sein? Und bringt mir das Beten dann überhaupt etwas? Gott muss mich doch dann als undankbar erleben, wenn ich alles im Leben so anstrengend finde und mich in diesem Zustand dann mit ihm treffe.

„Wenn Gott wie mein Handy funktionieren würde, würde ich öfter beten. Aber mit Gott ist es komplizierter. Gott gibt mir keine Ablenkung. Mein Internet ist schneller als Gott“, schreibt Sophia Fritz.

In kontemplativen Exerzitien-Tagen, im Schweigen, durfte ich lernen, dass Beten für mich in der Übung besteht, mich innerlich und äußerlich auf den gegenwärtigen Moment auszurichten, so da zu sein, wie ich gerade bin. Ich muss dabei nichts sagen, nichts formulieren oder denken. Wenn meine ganzen Aufgaben und Sorgen in den Kopf kommen, darf das sein und ich versuche nur, mich nicht in ihnen zu verlieren, sondern in der Wahrnehmung des Moments zu bleiben, in dem Gott schon da ist, auch wenn ich ihn nicht unbedingt spüre. Das gilt es, auszuhalten.

Die Dringlichkeit entzerren

Mein Gedanken- und Lebenschaos, mein Stress darf da sein, auch vor Gott. Gott will mich ganz, so wie ich jetzt gerade bin. Das klingt vielleicht klischeehaft und gefühlsduselig. Aber er will mich „echt“ haben, nicht verstellt, kein Fake, keine erzwungene Pseudo-Ruhe und Gelassenheit. Die kann ich vielleicht meinen Freund*innen oder Kolleg*innen noch halbwegs vormachen. Gott will mich mit meinen Sorgen und Ängsten – er kommt mir in meinem Gedanken- und Gefühlschaos entgegen. Auch das mag sehr pastoral klingen, ist aber meine persönliche Erfahrung. Ein starkes biblisches Bild für mich: Er zieht mich aus den Stürmen meines Alltags, so wie Jesus Petrus aus dem See zieht. Das Befreiende daran: Ich darf diese Dinge im Gebet stehen lassen und wahrnehmen, muss gerade nicht mit Entscheidungen und Handlungen darauf reagieren, wie sonst im Alltag. Das gibt den Sorgen auch einen gewissen Dämpfer, vermindert gewissermaßen ihre Dringlichkeit, setzt sie in eine andere Priorität. Ich kann sie – für die Dauer des Gebets – stehen lassen, auch wenn sie davon nicht einfach weggehen. Ich übe, darauf zu vertrauen, dass ich nicht erst alles erledigt haben muss. Ich übe, zu verstehen: Vertrauen braucht kein Gefühl zu sein, sondern eine innere Ausrichtung – noch genauer: meine Entscheidung, auf Gottes Präsenz zu vertrauen. Davon gehen meine Ängste, Sorgen und Aufgaben nicht einfach weg, aber ich übe, sie mit einer weniger gestressten Brille anzuschauen und sie für einige Minuten nicht so wichtig zu nehmen.

Der Selbstsabotage entkommen

Im Alltag gelingt es mir nur ganz selten, mich in dieser Form des Gebets zu üben. Ich bin Perfektionist, will es ganz oder gar nicht: Am besten eine volle halbe Stunde in völliger Stille morgens ganz früh direkt nach dem Aufstehen, was allerdings schon von meinem Schlafrhythmus her gar nicht passt.
Mein Perfektionismus hindert mich daran, ins Gebet einzusteigen. Bevor ich es nur halb mache, etwa erstmal 10 statt 30 Minuten, fange ich erst gar nicht an: Selbstsabotage. Mein Wunsch nach Perfektion findet aber Anschluss in einer zweiten Gebetsweise, die ich als hilfreich erlebt habe. Mein Ärger, die Traurigkeit, meinen Frust, das nahende Millennial-Burnout kann ich in Beziehung bringen mit meinen Sehnsüchten und damit auch mit Gott. Das habe ich bei sogenannten „Exerzitien auf der Straße“ gelernt. Das, was mich wütend, traurig macht oder frustriert, kann mich ins Gebet und zu meinen Sehnsüchten führen und mir meinen persönlichen Gottesnamen offenbaren, mit dem ich ihn direkt ansprechen kann.

Dieser Beitrag ist, leicht gekürzt und verändert, in der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ gedruckt worden (CIG 24/2021): Millennials – Generation Y: Will Gott überhaupt, dass ich bete?

Zum Weiterlesen:
Wie meditiere ich als Millennial? Warum ist: Kontemplation – mehr als Stress-Kompensation

 

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Kategorie: Religion Monatsthema

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