Das Ukrainische als Literatursprache entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert und ist mit den Namen Taras Schewtschenko und Lesja Ukrainka verbunden. Die Sprache der Intellektuellen war das Russische und damit war die russische Kultur bestimmend. Zudem war das Gebiet des heutigen ukrainischen Staates und damit seine Bewohner auf verschiedene Herrschaftsgebiete verteilt. Deshalb hat die ukrainische Kultur Einflüsse anderer Nationalitäten aufgenommen. Zugleich war es dadurch noch schwieriger, eine eigene Identität auszubilden. Hinzu kamen die Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur sowohl im Zarenreich und noch blutiger unter dem Sowjetregime.
Die Ukraine Teil anderer Staaten
Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Ukraine zwischen dem Russischen Reich und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie geteilt. Die ukrainische Sprache galt immer als Sprache der armen, nicht ausgebildeten Bauern, und schien dem Russischen unterlegen. Diese Abwertung verschärfte sich noch durch ein Dekret des Zaren Peter I., der 1709 die Veröffentlichung von Büchern in Ukrainisch verboten hat. Das machte die Pflege und die Entwicklung der ukrainischen Sprache fast unmöglich. Diese Barriere durchbrach Iwan Kotljarewskyj, indem er Vergils „Aeneis“ für die Erfahrungswelt der ukrainisch sprechenden Bevölkerung adaptierte. Er gilt als Begründer der ukrainischen Literatursprache. 1842 wurde sein Gesamtwerk herausgegeben.
Das literarische Talent von Taras Schewtschenko hat der ukrainischen Literatur zum Durchbruch verholfen. Ihm sind in mehreren Städten Denkmäler errichtet worden. Seine Verehrung in der Ukraine geht auch auf seine Kritik der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse zurück. Die Leibeigenschaft des ukrainischen Volkes unter der Herrschaft der Zaren ist Hintergrund vieler seiner Texte. Seine Kritik hat er mit Verbannungsjahren bezahlt. Sein Widerstand, die Unbeugsamkeit seiner Haltung wie sein Eintreten für Freiheit hat ihn zu der Person gemacht, die die ukrainische Identität verkörpert. Seine Texte haben ihre Aktualität nicht verloren, so dass er häufig zitiert wird. Einige seiner Verse sind zu Sprichwörtern geworden. In seinem Gedicht „Vermächtnis“ heißt es in den letzten Zeilen
„Ja, begrabt mich und erhebt euch,
und zersprenget eure Ketten,
Und mit schlimmem Feindesblute
Möge sich die Freiheit röten!
Und am Tag, der euch die Freiheit
und Verbrüderung wird schenken,
möget ihr mit einem stillen,
guten Worte mein gedenken.“
Übersetzung Iwan Franko
Die ewige Spannung: Russisch-Ukrainisch
1876 hatte der damalige russische Zar Alexander die ukrainische Sprache überhaupt verboten. Die russischen Behörden wollten den aufkommenden Nationalismus unterdrücken. Das Dekret unterschrieb er während eines Kuraufenthaltes in Bad Ems. Trotzdem schrieben bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Schriftsteller ihre Werke nicht mehr in russischer, sondern ukrainischer Sprache, Iwan Franko, Mychajlo Kozjubynskyj, Lesja Ukrajinka, Olha Kobyljanska. Ihnen und weiteren Schriftstellern ist es zu verdanken, dass die ukrainische Literatur und damit die Sprache auf ein neues Niveau gebracht wurden. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen literarischen Werke, sondern auch wissenschaftliche und publizistische Arbeiten.
Das löste eine intensive Diskussion über die russischschreibenden Schriftsteller ukrainischer Herkunft aus. Es geht bis heute darum, welchem Kulturkreis z.B. Nikolai Gogol zugeschrieben werden soll. Die meisten Literaturwissenschaftler sehen keinen Sinn darin, das Erbe dieses großen Schriftstellers zu „teilen“ und darüber zu streiten, welches Land mehr Anspruch auf sein Erbe hat. Selbstverständlich spielten und spielen in dieser Auseinandersetzung auch heute noch politische Gründe die wichtigere Rolle. Der Nachfahre einer alten Kosakenfamilie wurde in einer ukrainischsprachigen Familie im Gebiet von Poltawa geboren, er zog dann ins Russische Reich und schrieb meistens auf Russisch. Die Themen des ukrainischen Alltags, der Geschichte, der Traditionen und der gesellschaftlichen Verhältnisse ziehen sich aber wie ein roter Faden durch das ganze Schaffen Gogols.
Verfolgung und Unterdrückung in der Sowjetzeit
Wurden die ukrainische Sprache und damit die Intellektuellen im Zarenreich unterdrückt, waren die Repressalien gegen die ukrainische Intelligenz in den zwanziger und dreißiger Jahren während der Etablierung der Sowjetherrschaft noch viel einschneidender. In dieser Zeit hatte die ukrainische Kultur ihren ersten Höhepunkt erreicht. Die Künstler, Schriftsteller, Musiker, Schauspieler haben eine Vielzahl von Werken geschaffen und damit die ukrainischen Kultur zum Blühen gebracht. Dies war mit der kommunistischen Parteipolitik nicht vereinbar. Das sowjetische, auf Massendenkweise orientierte Regime konnte nicht die Entstehung einer das Individuum und die Unabhängigkeit fördernden Kultur zulassen. Schriftsteller, Künstler und andere Intellektuelle wurden verfolgt, nach Sibirien verbannt oder ermordet. Im nationalen Gedächtnis hat sich diese Periode als „hingerichtete Wiedergeburt“ eingeprägt. Die Vernichtung der ukrainischen Intelligenz begann mit der Festnahme des Dichters Mychailo Jalowyj und des Selbstmords des Schriftstellers Mykola Chwylowyj. Das Schicksal der nicht regierungstreuen Bürger verlief ähnlich: Verfolgung, Lager, Emigration, Hinrichtung. Seinen Höhepunkt erreichte Stalins Terror mit Massenhinrichtungen am 3. November 1937 aus Anlass des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution. Damals wurden nach offiziellen Angaben mehr als 100 Personen erschossen, unter denen Mykola Kulisch, Les´ Kurbas, Mychailo Jalowyj, Walerjan Pidmohylnyj, Pawlo Fylypowytsch waren – die Blüte der ukrainischen Nation. Dies war für die ukrainische Nation eine Tragödie.
Die Nachkriegsentwicklung der ukrainischen Literatur innerhalb der UdSSR war zwar nicht so blutig, aber trotzdem dramatisch. Russland als Herrschaftsland wollte auch kulturell seine Überlegenheit behalten. Eigenständigkeit und Meinungsfreiheit der „untergeordneten“ Republiken passten nicht in dieses Konzept. Deshalb wurde weiter Druck auf ukrainische Intellektuelle ausgeübt. In den sechziger Jahren meldete sich eine neue Generation ukrainischer Schriftsteller und Dichter, sie werden auch die „Sechziger“ genannt. Ihre bekanntesten Vertreter sind Iwan Switlytschny, Lina Kostenko, Iwan Dratsch, Wasyl Sumonenko, Dmytro Pawlytschko, Grygir Tjutjunyk und Iwan Dsjuba, die die Freiheit und geistige Werte thematisierten und auf diese Weise ihre Ablehnung des totalitären Regimes zum Ausdruck brachten. Die Regierung sah in ihrem Schaffen eine große Gefahr. Obwohl sich die Maßnahmen gegen „regierungsoppositionelle“ Tätigkeit erst einmal nur auf Druckverbote beschränkten, wurden viele Kunstschaffenden verfolgt. Manche wurden einfach liquidiert, ohne dass das der Öffentlichkeit bekannt wurde.
Der steinige Weg zur Anerkennung des Ukrainischen
Die Sprachenfrage ist in der Ukraine bis heute aktuell, weil ein Teil der Bevölkerung Russisch spricht und auch oft gar nicht das Ukrainische beherrscht. Zwar sind beide Sprachen nahe verwandt, jedoch verstehen die Russisch Sprechenden das Ukrainische kaum, während die Ukrainisch Sprechenden das Russische verstehen. Da die Sprache eine der Schlüsselkomponenten der nationalen Identität ist, wird das Ukrainische nach den Demonstrationen auf dem Majdan stärker gefördert. Die aktuelle ukrainische Literatur hebt langsam den Vorhang, der die ukrainische Geschichte noch für viele verhüllt. In den letzten Jahren zeigt die ukrainische Literaturszene eine rasante Entwicklung. Mehr Schriftsteller und Künstler aus der Geschichte werden entdeckt und treten aus dem Vergessen heraus. Der neuen Generation der Literaturschaffenden gelingt es, ihre Bücher in die Breite der Bevölkerung zu tragen, die Lesekultur entwickelt sich. Das ohne die Einschränkungen und die Opfer, die frühere Genrationen bringen mussten.
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