Quelle: wikipedia.de

Die Kirchen in der Wende und der Nachwendezeit

Die Wende ging von den christlichen Gemeinden aus. Sie hat die staatlichen Strukturen verändert und die Herrschaft des Kommunismus beendet. Sie hat auch die Kirchen in den Neuen Bundesländern verändert. Sie war vor allem eine Erfahrung der Menschen im Osten.

Autor: Thomas Gertler S.J.

 

"Wir sind ein Volk", in diesem Satz fand sich die Mehrheit der Ostdeutschen wieder.
Am Runden Tisch wird der Übergang vollzogen. Die erste Sitzung findet am 7. Dezember 1989 statt. Moderatoren sind die Kirchen, die Bürgerbewegungen gewinnen einen großen Einfluss. Modrow wird Nachfolger von Egon Krenz.
Wahlen noch zur Volkskammer am 18. März 1990: Es siegt wider Erwarten die Allianz für Deutschland: 30 Abgeordnete in der Volkskammer sind evangelische Geistliche. Die Pfaffenrepublik war auch schon eine CDU-Republik.

Die Monate davor: Die verschärfte Repression nötigt zur Ausreise

Die letzten Kreistagswahlen und die Ausreisewelle: es gab eine Art Torschlusspanik und die Überzeugung: Wenn der 40. Jahrestag der Gründung der DDR vorbei ist, dann wird die DDR endgültig zugemacht. Das Niederwalzen der Studenten auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking und die Resonanz von Egon Krenz in den DDR Medien war: "Wir werden nicht so lange warten."

Der Verlauf und die Personengruppen lassen sich sehr gut an den gerufenen Parolen erkennen.

1. "Wir wollen raus": Es war hoffnungslos: Lohnt es sich noch hier zu bleiben. DDR=DerDofeRest.
Die Ausreisewilligen (nicht die Christen!) haben den Protest auf die Straße getragen und dabei die Konfrontation gesucht. Weder die Evangelische noch die Katholische Kirche waren an der Konfrontation interessiert, weil sie ja auch in Zukunft hier leben wollten und mussten. Die Evangelische Kirche hat der Kritik und den Bürgerbewegungen Raum gegeben, aber nicht ohne weiteres mitgetragen. Hier waren sich beide Kirchen in ihren Mitgliedern viel ähnlicher als nach außen sichtbar wurde. Es gab Aktivisten bei den Katholiken, die bei den Evangelischen mitgemacht haben. Und es gab viele evangelische Gemeinden, die ihre Kirchen und ihre Räume nicht für die Protestler geöffnet haben.

2. Als die Ausreisewilligen aus der Prager Botschaft heraus und durch die DDR in den Westen gebracht wurden, meldete sich eine andere Gruppe mit dem Ruf "Wir bleiben hier" und "Wir sind das Volk". Der Ruf „Wir sind das Volk“ war nicht demokratisch gemeint, sondern an die Volkspolizei gerichtet, das Volk nicht niederzuknüppeln. Das war eine ganz andere Gruppe. Da waren viele Christen beteiligt.

3. Als es nach Honneckers Absetzung nicht mehr gefährlich war, auf die Straße zu gehen, strömten die Massen auf die Straßen, und zwar wieder mit einem anderen Ruf, nämlich „Wir sind ein Volk!“ Dahinter stand vor allem der Wunsch nach der schnellen Einheit, dem Wohlstand und der D-Mark. Das, was die oben genannte zweite Gruppe genau nicht wollte.

Die Wende als Erfahrung der Ostdeutschen

Die Wende fand für mich am 9. 10. mit der ersten friedlichen Montagsdemonstration in Leipzig statt. Das war ein Wunder für mich: nicht, dass es geschah, obwohl auch das unglaublich war, aber dass die Wende friedlich verlaufen ist, das war für mich die Frucht des gemeinsamen Gebetes. Das dürfen wir nicht vergessen, aber wir haben es längst schon wieder vergessen. Viele, die mit Kirche nichts am Hut haben, haben in dieser Zeit mit den Friedensgebeten eine religiöse Erfahrung gemacht, diese ist aber längst überdeckt und verweht.

Wichtig ist die Unterscheidung von Wende und Einheit

Die Wende oder richtiger die friedliche Revolution ist ein ostdeutsches Ereignis und eine ostdeutsche Erfahrung gewesen, an der der Westen nur als Zuschauer und Katalysator beteiligt war. Die Wende war auch die eigentlich religiöse Erfahrung, und zwar für die Christen eine Erfahrung biblischen Ausmaßes. „Als der Herr die Gefangenschaft Zions endete, da waren wir alle wie Träumende…“ Psalm 126 war unser Danklied. Die Einheit, die mit dem Fall der Mauer begann, war dann ein gemeinsames Erlebnis. Sie war auch international stärker beachtet. Dieses Ereignis war aber für uns sehr zwiespältig: positiv war, dass es nun kein Zurück mehr gab. Die deutsche Einheit war da. Negativ war: es kam die ganze Gier und der Materialismus, auch die menschliche Unreife der Ossis zum Vorschein. Es war beschämend. Nun setzte auch der Druck nach der schnellen deutschen Einheit ein. Die Gestaltungsmöglichkeiten nahmen ab.

Kirchliche Erfahrung der Wende:

-        Wir haben die Wende als religiöse Befreiung erfahren, gemeinsam mit Vielen. Die Wende ist ein ostdeutsches Erlebnis. Es sind die ersten friedlichen Demonstrationen in Leipzig und Dresden gewesen, die zum Ende der Gewalt führten. Die Friedensgebete waren auch außerhalb der Kirchengrenzen religiöse Erfahrungen, die heute längst vergessen und überdeckt sind. Als religiöse Erfahrungen stehen sie für mich den biblischen Befreiungserfahrungen in nichts nach. Muss das dann nicht auch erinnert und gefeiert werden, wenigstens als Fest und Erfahrung der Kirche in der ehemaligen DDR?

-        Wir haben Recht bekommen und gesiegt. Wir hatten das Vertrauen der Menschen. Die runden Tische haben gezeigt, dass die Kirchen als Integrationsfaktor bei zusammenbrechenden Ordnungen wirken und anerkannt sind. Kirche als einzige unbelastete Organisationen, die sich das Vertrauen erhalten hatte. „Unter“ den runden Tischen haben allerdings auch die Kommunisten ihr Schäfchen ins Trockene gebracht.

-        Einrichtung eines Festes der Kirche im Osten: Beides muss erinnert und durchdacht werden.

Viele Veränderungen und der Rollenwandel durch die Einheit:

  • Die Wandlung hat sich in der Gesellschaft stärker vollzogen als in der Kirche. Die Wende und Wiedervereinigung wurden sehr unterschiedlichen erfahren: Die Christen erhofften und wünschten mehr als andere eine Veränderung, bei der sie selbst mitwirken konnten. Es war in mancher Hinsicht auch „unsere Sache“.
  • Der Durchschnitt der Bevölkerung war durch den schnellen Wandel und die Veränderung aller Verhältnisse und Beziehungen überfordert. Neue Unsicherheiten machen sich immer stärker bemerkbar als erfüllte Wünsche. Es kam zu einer Verklärung der alten Sicherheiten.
  • Von Kommunisten war zu hören: "Ohne das Land zu verlassen, gehe ich in die Fremde" (Helga Königsdorf)
  • Die kirchliche Rollenveränderung wurde mehr durch die Wiedervereinigung als durch die durch die Wende erzwungen. Die Evangelische Kirche war geschockt, weil es faktisch zu einer Demontage ihrer Kirche kam.
  • Verlust von früheren Funktionen: Wir waren in der alten DDR in vielem fortschrittlicher als die Gesellschaft und Umgebung gewesen: Freiheit in der Kirche, Bildung Literatur, ein positives Image des Pfarrers und der Bischöfe. Für die Evangelische Kirche gilt das noch mehr.
  • Die Evangelische Kirche hat ein anderes Verhältnis zur Wiedervereinigung. Die Katholische Kirche steht positiv zum neuen Staat. Daher sind auch viele Katholiken zum gesellschaftlichen Engagement bereit. Die Katholiken tun sich leichter mit der CDU; die Evangelischen haben sich mehr an die SPD gebunden und waren daher wie Lafontaine Gegner der Einheit
  • Die zu schnelle Übernahme des Westsystems hat zu einem negativen Image der westdeutschen, reichen und mit der Macht verbundenen Kirche geführt. Es gibt von daher ein Sich-Wehren gegen den Westen und damit auch die Gefahr, die gesellschaftlichen Wandlungen, die sich vollziehen und auch auf die Kirche durchschlagen, wieder zu verschlafen und nicht pastoral darauf zu reagieren: so in Akademiker-Seelsorge. In den Familienkreisen möchte man das Familiäre nur bewahren.
  • Inwieweit sind die kirchlichen "Errungenschaften" des Ostens aufzuarbeiten und einzubringen: Frauen als Gemeindeleiterinnen und Gottesdiensthelferinnen. Können Kirchensteuer und Religionsunterricht einfach so übernommen werden, bedarf es auch da einer Differenzierung? Hier gab es ein Bewusstsein, dass die Kirche für den Religionsunterricht zuständig ist. Dass jetzt der Staat dafür zuständig ist, muss uns erst „eingeprügelt“ werden, bzw. wir müssen hier unsere Verantwortlichkeit "vergessen". Ist das gut so?
  • Nach der Wende verlassen viele Seelsorgehelferinnen-Gemeindereferentinnen und auch nochmals viele Priester den Dienst
  • Gewachsene und bewährte Organisationsformen der Kirche in Ostdeutschland wurden beendet, so die Pastoralkonferenz.

Die Enttäuschungen:

  1. Es war nicht möglich, selbst Eigenes zu gestalten. Die Mehrheit der Bevölkerung hat die schlichte Übernahme des Westens gewollt. Wir wollen es so wie im Westen und das möglichst schnell.
  2. Diese Mehrheit hat die Illusion gewählt und die Enttäuschung war vorprogrammiert. Man hatte geträumt, es wäre möglich, die relative Ruhe des DDR-Alltags mit dem Wohlstand des Westens verbinden zu können.
  3. Die Demontage der Evangelischen Kirche durch die Medien und wie sie selbst dieses Spiel mitgespielt und mitgemacht hat.
  4. Die Bewältigung der DDR-Vergangenheit gelingt nicht, auch nicht mit der Stasi und ihren Akten.
  5. Das Hauptproblem: Auf der einen Seite die Arbeitslosigkeit und auf der anderen der Dauerstress der Veränderungen, die ungeheure Beschleunigung des Lebens. Die Umstellung von einem versorgten und von oben bestimmten Leben zu einem Leben, in dem ich selbst sehen muss, wo ich bleibe.
  6. Die Enttäuschung mit der Wiedervereinigung gibt es auch in der Kirche. Es war ein Fehler, die Kirchensteuer so schnell zu übernehmen, ebenso den Religionsunterricht an den Schulen und die Militärseelsorge einzuführen.
  7. In der Evangelischen Kirche war die Enttäuschung viel größer. Sie ist viel mehr mit der DDR identifiziert gewesen und ist nun bewusst „zerkleinert „worden.

Eine Synode steht immer noch aus

Es wird nötig sein, Vieles selbst noch einmal zu überprüfen. Wir werden eine Synode brauchen.

  • die Kirche ist größer geworden;
  • viele Katholiken bekleiden politische Ämter;
  • Spannungen in der Ökumene: "Die Protestanten haben die Revolution gemacht und die Katholiken haben die Macht ergriffen" Das ist ein mehrfach falscher Satz! Die Revolution haben die Ausreisewilligen begonnen. Die evangelische Kirche hat der Revolution Raum, Kirchenraum gegeben. Gewählt worden sind die Katholiken von der Mehrheit der nichtchristlichen Bevölkerung, weil Kohl die schnelle D-Mark und blühende Landschaften versprochen hatte und Lafontaine die Einheit nicht wollte.
  • Nachholbedarf: Renovierung, Sprachen, Kontakte. Nachmodernisierung. Nachholende Revolution (Habermas)

Wege zur Verkündigung des Evangeliums  

Erst wenn die Kirche wieder missionarisch wird, gelingt der Ausstieg aus der Stagnation. Dafür sind die Voraussetzungen:
Überwindung der hermetischen Gesellschaft: das Kommunikationspotential, das die Kirche in der Wende, bei den runden Tischen gezeigt hatte, sollte erhalten bleiben. Versöhnung und Gespräch innerhalb der Ostgesellschaft.
Im Ost-West-Verhältnis sollte das unterschiedliche Kirchenbild und die andere Kirchenerfahrung Thema werden, um das Selbstverständnis zu klären.
Im Osten die kleine und familiäre Kirche: inwieweit ist das erhaltensmöglich, erhaltenswert. Eine stärkere Differenzierung wird unausbleiblich sein, andererseits hat die Kirche eine große Kraft der Beheimatung - aber nur für die "eigenen" Leute.
Im Westen: Fassadenkirche, Über-Institutionalisierung. Soll man auf die Katastrophe warten oder sollen wir bewusst etwas steuern und angehen?
Kirche auch der Intellektuellen, Frage nach Gottesdienstformen.

Der Autor, Thomas Gertler, ist im katholischen Eichsfeld aufgewachsen, Mitglied des Jesuitenordens geworden. Er hat über „Gaudium et Spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils promoviert, war bis 1998 in Erfurt und wurde dann mit Leitungsaufgaben im Orden betraut.

Links: Modul: Kirche in der DDR Beiträge auf explizit.net und hinsehen.net über die Kirche in der DDR Hier geht es zu den Links

1.     Kirche in der DDR- die Vorgeschichte
Der Prozess der deutschen Einheit hat uns zu Bewusstsein gebracht, dass wir im Osten und Westen in 40 Jahren nicht nur unterschiedliche Erfahrungen mit der Gesellschaft und dem Staat, sondern auch mit Kirche gemacht haben. Wir haben beide Kirchen unterschiedlich gestaltet. Dafür zuerst ein Rückblick auf die Jahrzehnte, ehe die Katholiken in zwei sehr verschiedenen deutschen Staaten lebten. Hier zum Weiterlesen

2.     Kirche in der NS-Diktatur und unter Ulbricht
Die deutsche Teilung und damit die Trennung der Katholischen Kirche führt zu einem unterschiedlichen Kirchenverständnis. Jedoch haben beide Kirchen die gleiche Vorgeschichte. Hier geht es in einem zweiten Schritt um die Zeit der ersten Diktatur, auf die für die Katholiken in der Ostzone und dann der DDR die Zweite folgt. Hier zum Weiterlesen

3.     Mauerbau, Konzil, Studentenrevolte und Synoden
Kirche in der ehemaligen DDR - heute knüpft man dort an, wo man aufgehört hat. Das führt zu großen Problemen der Kirchen im Osten. Die psychischen Folgen der Diktatur sind Angst und Misstrauen gegen Fremdes. Aber auch großes Vertrauen und enger Zusammenhalt untereinander. Hier die Zeit bis 1968. Hier zum Weiterlesen

4.    Die neue Kirchenpolitik Honeckers und der Anfang vom Ende
Die Ostpolitik von Willy Brandt führt zum Grundlagenvertrag, ohne dass sich damit für die Christen wie auch für die DDR-Bürger Entscheidendes änderte. Die marxistische Philosophie hatte bereits mit der Niederschlagung des Prager Frühlings ihre Überzeugungskraft endgültig verloren. Vorausgegangen waren neue Ansätze. Der Staat erlaubte Synoden und Treffen ähnlich den Katholikentagen. Hier zum Weiterlesen


 

 


Kategorie: Kirche

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