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Coronavirus: Die Risiken in den Blick nehmen

Das Coronavirus kann zu einer Pandemie führen. Damit drohen neue Dimensionen von Risiken, die bisher für Deutschland nicht für realistisch gehalten wurden. Johannes Wahl zeigt die Dimensionen auf.

Als im März 2014 die neue Broschüre des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe erschien, schmunzelten viele. 10 Tage Lebensmittelvorrat für Katastrophen vorhalten schien vielen wohl als eine bemutternde, übervorsichtige Maßnahme. Solche Katastrophen hatte es schließlich schon lange nicht gegeben. Warum sollte sich das ändern? Deutschland, das Land der Ingenieure, Tüftler und Techniker, habe vorgesorgt. Seitdem hat sich vieles geändert: Stuttgart 21, Elbphilharmonie und BER haben Zweifel am gegenwärtigen Leistungsstand aufkommen lassen. Die Abschaltung von Atommeilern in Folge des Tsunami von Fukushima haben wesentliche Mengen stabiler Grundversorgung bei Strom reduziert, ohne durch andere sichere deutsche Stromerzeugung adäquate Ersetzungen zu etablieren. Die Stromerzeugung hat man unter dem Stichwort Energiewende der Witterung ausgesetzt: Sonnen- und Windenergie erzeugen den Strom. Die Tage, an denen im europäischen Verbundnetz Strom aus nicht deutschen Ländern importiert wird, sind mehr geworden. Die Stromversorgung war schon mehrfach 2019 an der Grenze, instabil zu werden. Ohne Unterstützung aus dem Ausland, wäre diese Grenze erreicht worden. Dennoch geht die Energiewende weiter. Die Ausfallwahrscheinlichkeiten und Abhängigkeiten vom Ausland erhöhen sich.
Nun wissen wir von der Corona-Epidemie in China, dass in Sektoren der Wirtschaft Arbeitskräfte fehlen. Es ist daher gar nicht so abwegig, wenn ungünstige Faktoren zusammenspielen: fehlende Arbeitskräfte, hoher Stromverbrauch, ungünstige Wetterlage führen zum Stromausfall. Jedenfalls ist die Situation gibt Anlass zu überlegen, was denn alles passiert, wenn das Netz zusammenbricht.

Was alles nicht geht, wenn der Strom ausfällt

Die Küche bleibt kalt, der Kühlschrank und die Gefriertruhe tauen ab. Waschmaschine, Bügeleisen, Trockner bleiben aus. Die Umwälzpumpe lässt das warme Wasser im Keller. Das Telefon rührt sich nicht, WhatsApp bimmelt nicht mehr. Computer und Fernseher sehen schwarz. Man bettet sich früher, da das Licht trotz Energiesparlampe nicht wollte. Plötzlich werden Essen, Heizung, Waschen, Information und Kommunikation zum Problem. Das sind die unmittelbaren Folgen.
Hält die Situation ein paar Tage an, wird es nicht nur angesichts der kalten Wohnung ungemütlich. Der Versuch, den Discounter des Vertrauens aufzusuchen, scheitert an elektronischen Kassensystemen und elektronischen Zahlungsvorgängen. Selig, wer Bargeld hat! Die Geldautomaten haben gerade Generalstreik. Zum Vorsorgen ist es also zu spät. Stromausfall bedeutet: Der Status quo lässt sich nicht verbessern. Der Versuch, sein Auto zu betanken, scheitert an der Zapfsäule. Auch hier kein Strom. Da hilft sogar Bargeld nicht. Langsam wird es auch ungemütlich. Die Pumpen des Wasserversorgers sind inzwischen auch ausgefallen. Der Wasserhahn funktioniert nicht mehr.  Solange keine akute Notlage entsteht hinzukommt, lässt sich das durchalten. Aber was, wenn sich das ändert? Man kann ja keinen Notruf absetzen! Medikamente? Es gibt nur noch das, was man vorrätig hat. Der Weg ins Krankenhaus kann plötzlich zu einer halben Weltreise werden, besonders wenn es draußen friert und schneit. Feuerwehr, Krankenwagen, Polizei, usw. kommen nicht und sind vielleicht woanders im Einsatz.
Notfallpläne sind dazu da, Herr der Lage zu sein, wenn eine Notlage eintritt. Wer nicht vorgesorgt hat, der steht vor großen Problemen. Wer vorgesagt hat, der kann mit Ruhe und Übersicht handeln. Angesichts steigender Gefahren sei jedem die Notfallbroschüre des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe empfohlen:Vorsorge für den Katastophenfall

Übungen für den Notfall sind unerlässlich

Pläne können nur ausgeführt werden, wenn sie geübt werden. Daher macht die Feuerwehr Übungen, daher trainiert das Technische Hilfswerk. Es genügt nicht, nur der Theorie halber die Broschüre durchzuarbeiten. Jedes Szenario sollte eingeübt werden. Nur wer auch das praktische Wissen in den Fingern hat, ist gewappnet für den Ernstfall. Ein besonderer Schwerpunkt sollte hierbei die Erste Hilfe sein. Unser System in Deutschland, unsere Erste-Hilfe-Kurse, sind darauf ausgelegt, dass innerhalb weniger Minuten professionelle Hilfe vor Ort geleistet wird und alles Weitere übernimmt. Erste Hilfe hört dort auf, wo das Notfallpersonal eintrifft. Doch was, wenn kein Notfallpersonal kommt? Dieser Fall steht leider nicht in der Broschüre. Wenn er eintritt, stehen wir planlos vor dem Problem. Wir müssen selbst hierfür Pläne schmieden und selbst vorsorgen.

Medien erfordern Medienkompetenz

Die Kernkompetenz des digitalen Zeitalters heißt Medienkompetenz. Die Fähigkeit, Nachrichten zu unterscheiden, also auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und jene Elemente, die unwahr sind, auszusondern, gehört inzwischen zum digitalen Alltag. Die wenigsten Nachrichten haben einen eindeutigen Wahrheitsgehalt und berichten nur über bloße Fakten. Die meisten Nachrichten wählen aus und lösen den Kontext auf, in dem eine Wahrheit gültig ist. Weiter tritt der individuelle Kommentar des Berichterstatters hinzu, sei es durch direkte Stellungnahme, sei es durch indirekte Färbung der Weltsicht, die sich im aktiven Wortschatz zeigt und immer mitgegeben ist. Medienkompetenz hat daher drei Aufgaben: Die Weltsicht des Berichterstatters von den Fakten trennen, die Fakten der Nachrichten von bloßen Behauptungen unterscheiden und einen Kontext herstellen, in dem der Wahrheitsgehalt gültig ist. Im Zuge der Medienkompetenz geht es hier nur über Nachrichten des Coronavirus nachdenken.

„It’s just the flu!“ eben nicht, es ist keine Gippe
Der neuartige Coronavirus, so hieß es, könne mit der saisonalen Grippe verglichen werden. Das ist zweifellos nicht ganz verkehrt. Aber die Frage nach dem Kontext entscheidet hier sehr stark, inwieweit dieser Vergleich zutrifft. Wichtig sind nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern die Differenzen. Zum Kontext gehören beide Seiten. Der einfache Vergleich mit der Grippe scheitert an der Einseitigkeit des Kontextes. Für die Medienkompetenz lautet die Frage: Woran erkenne ich den einseitigen Kontext?
Für diesen Fall kommen zwei Momente in Frage: Einmal das Wissen um den Influenzavirus, zum anderen das Wissen um die Reaktion auf die Krankheit.
Sobald also der Vergleich mit dem bekannten Grippevirus angestrengt wird, sollte ich mich selbst informieren, welche Merkmale dort gegeben sind. Ich sammle Wissen über Influenza. So entsteht Kontext. Wenn nun über bestimmte Merkmale des neuartigen Virus berichtet wird, u.a. Infektionsrate, Letalität, Verbreitungswege, Inkubationszeit …, kann ich selbst einschätzen, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede liegen. Das hilft mir bei zwei Dingen: Meine eigene Informationsbasis aufzubauen und die weitere Berichterstattung auf Verlässlichkeit zu überprüfen. Wenn ein Bericht den Kontext verlässlich wiedergibt, dann habe ich mehr Anlass, den Nachrichten zu trauen, als wenn der Bericht den Kontext vernachlässigt und so falsche Schlüsse präsentiert. Ich bin in der Lage, die Güte der Nachrichtenquelle zu beurteilen.
Die andere Möglichkeit der Einschätzung betrifft die Wirkung der Krankheit. Wenn das Virus mit Influenza so leicht vergleichbar wäre, dann müssten die Reaktionen auf das Virus den Reaktionen auf Influenza ähneln. Nun wurden über 60 Millionen Menschen mit einer Ausgangssperre belegt, sie wurden verpflichtet, Masken zu tragen, und hatten die Anweisung zuhause zu bleiben, also nicht zu arbeiten. Der gesunde Menschenverstand wird hier also stutzig: Warum diese drakonischen Maßnahmen, wenn es sich doch nur um eine saisonale Grippe handelt? Die Schlussfolgerung: Es müssen gravierende (!) Gründe gegeben sein, damit solche Maßnahmen erlassen werden. Es gibt also einen schweren und nicht leichten Unterschied zur Influenza. Die Aufgabe der Medienkompetenz bedeutet hier, diesen Unterschied, wenn auch er unbekannt ist, festzuhalten, und in einem zweiten Schritt einen Kontext herzustellen, der diesen Unterschied verstehbar macht. An dieser Stelle müßte man also zum ersten Punkt zurückkehren und die Merkmale des Influenzavirus nachschlagen.

Der Kontext, um die Nachricht richtig zu verstehen, lautet dann: Es gibt zwei wesentliche Unterschiede zum Influenzavirus. Einmal liegt die Ausbreitungsgeschwindigkeit deutlich höher (sog. R0, gesprochen R nought, "basic reproduction number“) und andererseits verbreitet sich das Virus auch durch Infizierte, die noch keine Symptome haben, also während der Inkubationsphase. Diese beiden Unterschiede sind wichtig für die Entscheidungen, die getroffen werden. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Virus zuschlägt, ist um ein vielfaches höher als bei anderen Viren. Es gibt im Internet einige Illustrationen, wo dies dargestellt wird. Der Handlungsdruck liegt bei diesem Virus also viel höher als bei anderen.
Ebenfalls Teil des Kontextes ist die Zahl der Komplikationen. Etwa 20 % der Infizierten bilden eine Lungenentzündung aus und müssen stationär im Krankenhaus behandelt werden. Das klingt zunächst nicht viel. 20 % ist eine relative Angabe. Im Hinblick auf die Bezugsgröße, den sog. Grundwert, ist dieser Anteil auch recht gering. Aber wenn der die Bezugsgröße groß ist, es also viele Fallzahlen gibt, dann sind die absoluten Zahlen, der sog. Prozentwert, sehr hoch. Wenn 1000 Leute infiziert sind, dann brauchen 200 Leute gleichzeitig eine Therapie gegen die Krankheit. Relativ gesehen sind das wenige Leute, absolut gesehen sind das sehr viele Leute. Nehmen wir eine Stadt wie Frankfurt als Beispiel: 750.000 Einwohner. Angenommen nur 10% sind infiziert, dann sind das 75.000 Leute. 20 % davon bilden eine Lungenentzündung aus.15.000 Leute brauchen dann gleichzeitig eine entsprechende Behandlung mit z.B. Sauerstoffgeräten. Hat Frankfurt solche Kapazitäten? Wohl kaum! Es ist daher umso wichtiger, dass die Ausbreitung des Virus verlangsamt wird. Die Lage verschlechtert sich sonst in kurzer Zeit dramatisch.
Ein weiterer Faktor: Es gibt ja auch noch Menschen, die andere Krankheiten haben. Was ist mit denen? Können die noch entsprechend versorgt werden? Die Corona-Epidemie ist eine zusätzliche Belastung, die Konsequenzen für andere medizinische Versorgungsmaßnahmen hat. Es hat übergreifende Auswirkungen.

Lagtime - Entscheidungen müssen ohne aktuelle Daten getroffen werden
Neben den zwei erwähnten Vorstellungsproblemen, nicht-lineare Prozesse und das Verhältnis von absoluten und relativen Zahlen, kommt hier noch das Vorstellungsproblem der Zukunft hinzu. Wir wissen um die Inkubationszeit des neuartigen Virus und dass die Verbreitung mit der Inkubationsphase beginnt. Es gibt also eine Differenz zwischen jemandem, der als infiziert gilt und der wirklich infiziert ist. Wenn heute 100 Fälle gemeldet werden, dann stimmt diese Zahl nicht. Die Fälle heute bilden nur heute Symptome aus. Infiziert wurden sie schon durchschnittlich 5-6 Tage vorher. Diese Verzögerung muss daher mitgedacht werden.
Zu Beginn der Ausbreitung wurde sogleich eine Letalität von 2 % ausgerufen. Diese Zahl kam zustande, indem man die Zahlen der WHO vom 30.1. in Beziehung setzte: 7.728 Infizierte und 170 Tote ergibt 0,022, also 2,2 % verstorbene Infizierte. Nun haben wir die Verzögerung und wir wissen, dass wir die Zahl der 170 Toten zum 30.1. auf die Infizierten gemäß der Verzögerung (24. und 25.1.) annehmen müssen. Da kommt man also auf andere Quoten. Für den 24.1. haben wir 834 Infizierte, was 20,38 % entspricht, und für den 25.1. haben wir 1.294 Infizierte, was 13,14 % entspricht. Das wäre eine genauere Einschätzung für diesen Zeitpunkt gewesen.
Inzwischen ist einige Zeit vergangen. Durch die größere Datenlage können bessere Voraussagen getroffen werden. Dank guter Informationssysteme haben wir Zugriff auf diese Daten und können uns ein Bild davon machen. Zum jetztigen Zeitpunkt (So, 1.3. 13:40 Uhr) liegt die Letalität bei 7 % und die Rate der schweren Fälle bei 18 %.
Den Test, ob diese Daten zutreffend sind, kann man machen, indem man die Verzögerung einbezieht. Für jeden neuen Tag legt man eine Datenreihe an und bezieht die Zahl der Toten auf die Zahl der Infizierten gemäß der Verzögerung. Daraus ergibt sich eine Quote. Diese Quote müsste sich nach und nach der letztlich richtigen Letalität annähern. – Achtung! Man muss regionale Datensätze nehmen. Die Toten Italiens korrelieren mit den Infizierten Italiens. Globale Aussagen haben wenig bis keine Aussagekraft.
Unverständlich sind übrigens Aussagen mancher Virologen, die auf die hohe Dunkelziffer bei den Infizierten verweisen. Sie tun so, als gäbe es diese Dunkelziffer nur bei Corona und nicht bei Influenza. Hier wird ebenfalls entscheidender Kontext weggelassen. Es gelten hier die gleichen Bedingungen, nicht verschiedene.

Das Problem der Verzögerung liegt besonders bei der Politik vor. Entscheidungen, die heute getroffen werden, richten sich nach Daten, die eigentlich vor 5-6 Tagen gültig waren. Die wahre Situation heute ist unbekannt und kann nur abgeschätzt werden. Politiker, die um die Verzögerung wissen, müssen daher die Situation um den entsprechenden Zeitraum antizipieren und vorausschauend handeln. Angesichts des Handlungsdrucks durch die exponentielle Verbreitungsgeschwindigkeit können diese 5-6 Tage gravierende Folgen haben.

 

Links:
Coronavirus: Die umstürzende Gewalt der Krise

Coronarvisus: über die Wirtschafts- zur Staatskrise

Coronavirus führt zu Reisefasten

Manfred Haferburg berichtet vom Stromausfall an Silvester 1978:

ausführliche Besprechung des Stromausfalls von Dr. Jörn Berninger, Schweiz, vier Videos:

Kurven zeigen die Ausbreitung des Virus'


Kategorie: explizit.net

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