Am Dienstag traten Kanzlerin Merkel und Premier Erdoğan vor die Berliner Presse: die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union seien ein ergebnisoffener, zeitlich unbefristeter Prozess. Die Politikerin meinte, sie stehe einer vollen Mitgliedschaft der Türkei eher skeptisch gegenüber. Aber dies müsse niemanden stören. Vielmehr möge man den Prozess voranbringen. Laut Angela Merkel sollten Gespräche zum Kapitel 22 – Regionalpolitik – intensiviert sowie bald Rechtsstaatskapitel 23 und 24 eröffnet werden. Dies diene der rechtsstaatlichen Kooperation. Indessen verwies Tayyip Erdoğan auf drei Millionen Menschen aus der Türkei in Deutschland, elf türkischstämmige Abgeordnete im Bundestag, Aydan Özoğuz als Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, und auf große gemeinsame strategische Interessen der beiden Seiten. Wie steht es darum?
Verbündete
Innere und äußere Aspekte solcher Gemeinsamkeiten wechselten oft. Im Kern sagte die Kanzlerin zum Premier, sich eventuell in der Zukunft zu verbinden, aber eher kritisch zu bleiben: besser sei eine privilegierte Partnerschaft. Sie zweifelte am Beitritt, schiebt ihn auf eine lange Bank. Jedoch verfolgt sie ein dynamisches Konzept, indem sie alle auf das Naheliegende in den drei von 35 Integrationskapiteln ausrichtet. Ein Blick in das Gestern verrät, warum. In den drei Dekaden der deutschen Mittelostgründerjahre ab 1884 suchten Kaiser Wilhelm II. als auch Kanzler Otto von Bismarck ein „natürliches Bündnis“ mit dem Osmanenreich. Die Stichworte waren Sueskanal, Anatolische Eisenbahnen, moderne Industriewaren gegen Rohstoffe sowie der akademische Austausch samt Expeditionen.
Tiefpunkte bildeten in den Weltkriegen die Jihadisierung des Islam und die Genozide. Beide Seiten wandten sich nach 1945 der Demokratie und neuen Zusammenarbeit zu. Im Geburtsjahr der Bonner Republik trat Ankara dem Europarat bei. Zehn Jahre darauf folgte das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Beitritt des Natolands wurde seit 1959 anvisiert. Seinen Antrag 1987, in die Zollunion einzusteigen, wurde erst 1996 wahr, nachdem die Türkei der Westeuropäischen Union als assoziiertes Mitglied beitrat. Im Folgejahr bejahte es Brüssel, die Türkei käme als volles Mitglied in Frage, schob aber Verhandlungen auf. Endlich wurde Ankara Ende 1999 ein Beitrittskandidat – nach Reformen im Zivilrecht. Beitrittsverhandlungen starteten 2005.
Als Alternative zur Vollmitgliedschaft stand die privilegierte Partnerschaft, die vor allem Paris wie die Einhaltung der Menschen- und Minoritätenrechte gefordert hat. Seither gab es ein Auf und Ab mit drei Kabinetten Erdoğans sowie zwei Extras seitens der Europäer: jährlich werden Berichte über den Stand in den Kapiteln gegeben und sollten Fortschritte bei Menschenrechten, Minoritätenschutz und Meinungsfreiheit fehlen, können ein Drittel der EU-Mitglieder Verhandlungen stoppen. Jedes Land muss diesen Beitritt im Parlament oder Referendum bejahen. „Nein“ oder fehlende Aufnahmefähigkeit brächte alles zu Fall.
Merkels Drängen auf konkrete Vorarbeiten folgt dieser Linie. Andererseits fand Erdoğan Probleme: Protestwellen ab 28. Mai 2013 über Istanbul hinaus gegen das Bauprojekt im Gezipark am Taqsimplatz, Einschnitte bei Bürgerrechten und neue Skandale.
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Kanzlerin Merkel betonte hierzu, das Demonstrationsrecht gehöre zu den Grundrechten, und jedes Land müsse seinen Demokratisierungsweg sowieso aus eigener und innerer Kraft gehen.
Integration
Da Premier Erdoğan in Berlin erklärte, schnell zu wissen, was in Deutschland laufe oder umgekehrt, so mag dies nicht mehr stimmen. Mittwoch ergingen in Ankara Gesetze, das Internet zu zensieren, was man sogleich in Brüssel kritisiert hat. Sollte Staatspräsident Abdullah Gül diese Eingrenzung der Redefreiheit bestätigen, so wirft dies auch Schatten auf das deutsch-türkische Wirtschafts- und Wissenschaftsjahr sowie auf die Diplomatie, wo eine Reise des Bundespräsidenten Joachim Gauck in die Türkei im April ansteht. Ende März zeigen Kommunalwahlen das Stimmungsbarometer an. Immerhin erreichte Premier Erdoğan, dass auch bei Präsidentschaftswahlen in der Türkei an sieben Orten in Deutschland gewählt werden kann. Die interessanteste Frage betraf aber die Integration.
Ein Journalist sprach den Premier an, ob er bei seiner Wahlwerbung wieder die türkische Gemeinde Deutschlands vor der Assimilierung warnen werde. Daraufhin befürwortete er deren Integration, nicht aber die Assimilation, was „die Umwandlung einer Gesellschaft“ bedeuten würde. So etwas stehe gar nicht an. Die Kanzlerin meinte, Integration sei keine Einbahnstraße. Sie bedeute, dass sich diejenigen, die gekommen sind, natürlich auf das Land einlassen, die Sprache lernen und hier ihr Leben gestalten. Aber die Integration bedeute ebenso, dass die Bevölkerung, die hier schon viel länger lebt, bereit ist, die neuen Aspekte und auch die andere Kultur aufzunehmen, zu respektieren und sich dafür zu interessieren. Dies sei immer ein zweiseitiger Prozess. Wenn der Ministerpräsident wie damals in Köln „keine Assimilation“ sagt, dann käme es so an, „als müsste man uns das als Warnung sagen, denn es könnte ja passieren. Ich glaube, darüber sind wir hinweg.“
Sie tauschten sich dazu aus, dass es niemanden gebe, der so etwas wolle. Das wäre absolut nicht richtig. Die Deutschen seien selber ein sehr vielfältiges Volk. Die Bayern möchten gleichwohl, dass ihre kulturelle Identität akzeptiert werde, genauso wie dies nicht minder Norddeutsche möchten. Verschiedene Einflüsse können die Gesellschaft auch bereichern.
Ein probater Ansatz, zumal er durch Integrationsgipfel mit Punkten wie Berufsausbildung untersetzt werden soll. Hier sei an Leitsätze der zweiten Kritischen Islamkonferenz vom Vorjahr erinnert. Integration heiße Emanzipation: „Integrationspolitik“ soll vornehmlich als „Emanzipationspolitik“ verstanden werden. Schließlich geht es nicht darum, „fremde Kulturen“ in eine „deutsche Kultur“ zu integrieren, sondern einzelnen Individuen die Teilhabe zu ermöglichen. Geboten sei Sprachkompetenz und Bildung der Betroffenen zu stärken, ihnen zu vermitteln, welche Rechte und Pflichten sie im Verfassungsstaat haben, und alle Formen von Diskriminierung abzubauen, die noch in Deutschland existieren.
Auswärtiges
Klappt die innere Angleichung, gibt es mehr Raum für koordinierte auswärtige Schritte. Das europäische Boot, durch Eurokrise, Ukraine und Umbrüche in Mittelost geschüttelt, kann kentern. Die Kanzlerin verwies auf den Brennpunkt Syrien, wo 700.000 syrische Flüchtlinge an der türkischen Grenze sind. Da die Genfer Konferenz II erst so spät und wenig humanitäre Hilfe leistete, liegt es nur im bilateralen strategischen Interesse, so gut wie möglich einzuwirken. Premier Erdoğan mahnte den Umbau des Sicherheitsrates an. Kanzlerin Merkel verwies auf 28.000 Flüchtlinge, die Berlin seit 2011 aufnahm. Fazit: Innere und äußere Teile dieser Berliner Mittelostpolitik sind mit Kritik effektiv angelegt.
<emphasize>Wolfgang G. Schwanitz</emphasize>
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