(explizit.net) Trotz aller Drohungen der Taliban haben fast zwei Drittel der wahlberechtigten Afghanen am Samstag einen neuen Präsidenten gewählt. Erste Resultate folgen aber erst in zwei bis sechs Wochen. Sieben der zwölf Millionen Wähler schritten zur Urne, sogar zweieinhalb Millionen mehr als bei den Wahlen von 2009 als Hamid Karzai im Amt bestätigt wurde, der am 4. Dezember 2001 in der Afghanistan-Tagung auf dem Petersberg bei Bonn zum Präsident der Übergangsregierung gewählt worden war. Die neue Verfassung und seine Wahl zum Präsidenten kamen mit 55 Prozent der Stimmen 2004. Die Stimmauszählung wird nun international überwacht, gab es doch zuvor Unregelmäßigkeiten. Immerhin: In einem der am wenigsten entwickelten Länder gelingt fast friedlich dieser Machtübergang.
Hier und dort gab es Anschläge auf die Wahllokale, die eine 350.000 Mann starke Armee abwehren und die Integrität des Prozesses im Wettbewerb der acht Kandidaten bewahren vermochte. Bekannter unter den Bewerbern sind die vormaligen Außenminister Abdullah Abdullah, Karzais populärster Gegner, und Zalmai Rasul, und der vorige Finanzminister Ashraf Ghani, der seinen Doktorgrad an der New Yorker Columbia-Universität erworben hat. Erhält keiner von ihnen über die Hälfte der Stimmen, erfolgt eine Stichwahl am 28. Mai, kurz vor dem Fastemmonat Ramadhan, was dann alles noch weiter hinausziehen könnte.
Aber Karzai trennt sich nur schwer von seiner Macht. Er ließ sein neues Anwesen gleich neben dem Präsidialpalast in Kabul errichten. Er möchte sich mehr seiner Familie mit drei Kindern widmen. Nach bisherigen Erfahrungen mit der wechselhaften Historie am Hindukush gibt es Wahrsager, die den 56-jährigen, trotz seines Dutzends an Machtjahren und fünf Wahlen, dort nicht lange sehen: über kurz oder lang werde Karzais Anwesen ein Gästehaus sein. Für wen, einen der gewählten Präsidenten oder einen Sultan der Taliban?
Taliban
Schlimmes lief im Vorfeld. Die Taliban, die 1996 bis 2001 weite Teile des Landes im Islamischen Emirat Afghanistan beherrschten und den Planer des 9/11-Anschlags, Usama Bin Ladin selbst nach der US-Intervention seit 7. Oktober 2011 zu beschützen suchten, griffen auf Terror zurück, je näher diese Wahlen rückten. Allein in den beiden Monaten davor sandten sie 39 Selbstmordattentäter aus. Nicht wenige Wahlbeobachter zogen ab. Viele Wahllokale, vor allem auf den Lande, wurden wegen Gewaltdrohung geschlossen. Am Wahltag gab es im ganzen Land, so Innenminister Umar Daudzai, etwa 140 Angriffe.
Noch am Freitag erfolgte ein Anschlag auf die US-Journalistinnen Anja Niedrighaus und Kathy Gannon in der Provinz Khost. Laut New York Times wollten beide die Wahlen beobachten. Als ihr Auto vor einem Soldaten der Regierung stoppte, drehte sich dieser herum und feuerte in die Rücksitze. Niedrighaus erlag dem Kugelhagel, indes Gannon zu einer Nato-Basis evakuiert wurde. Diese Anschläge „aus eigenen Reihen“ zeitigten viele Tote auch im Militär und bei den Alliierten. Dennoch sagte der Regierungsbeamte Abd al-Wakil Amiri, jedesmal, wenn es einen neuen König oder Präsidenten gab, blühten Tod und Gewalt auf. Diesmal, so der Mann, der nahe einer Kabuler Moschee gewählt hatte, „erleben wir zum ersten Mal Demokratie.“ Der Chef der Wahlkommission, Muhammad Yusuf Nuristani, erklärte diesen Samstag: „Afghanistans Feinde sind besiegt worden.“
Alliierte
Zwar standen 53.000 Soldaten der Nato bereit, darunter 35.500 Amerikaner, jedoch fern der Wahlen. Geheimdienstchef Rahmatullah Nabil behielt recht, als er bilanzierte, diese Wahlen würden ein Schlag ins Gesicht der Terroristen sein. In der Tat, von Tunesien über Ägypten bis Irak kosten Wähler vom Zaubertrunk des Westens: ihre Stimmen sollen im Ringen um die Zukunft zählen. Sie trotzten Drohungen der alten Kräfte, ob nun Taliban, Muslimbrüder oder andere Islamisten. Viele Frauen beteiligten sich am Urnengang, oft in der blauen Burqa, sogar in den Städten. Im Land liefen Wahlen auch in „Todeszonen“ ab.
Offen ist weiter, ob etwa um die 10.000 US-Truppen als Berater ab 2015 in Afghanistan bleiben. Karzai wies ein entsprechendes Abkommen ab. Die acht Bewerber um sein Amt hingegen bejahten einen Sicherheitsvertrag. Er bleibt für Washington wichtig, das 2011 keine Übereinkuft mit dem Irak trotz der großen Verluste an Leben und Mitteln zustande brachte. Ebenso in Afghanistan ist der Blutzoll in 13 Jahren auf dieser Seite hoch: 1.800 Soldaten und viele Milliarden Dollar, ganz zu schweigen von Afghanen und Alliierten. Allein in den vorigen 13 Jahren sollen 16.000 afghanische Zivilisten getötet worden sein.
Megaschritt
Außenminister Frank-Walter Steinmeier nannte die Wahlen ermutigend. Den Taliban gelang es nicht, die Wahlen mit Gewalt zu torpedieren, auch wenn die Sicherheitslage angespannt sei. Die Stimmen mögen transparent, zügig und glaubwürdig ausgezählt werden. Berlin hegt aktuell und historisch ein hohes Interesse, dass sich Kabul stabilisiert.
Laut Innenminsterium leben daheim über 1.000 islamistische Terroristen. Hiervon seien 128 fähig, ebenso ernste Verbrechen wie Terrorattacken zu begehen. Darunter wären 20, die in Afghanistan und Pakistan trainierten. Dies stieg in 29 islamistischen Gruppen mit 34.720 Mitgliedern oder Helfern nach dem zehnten Jahrestag von 9/11 an. Bereits unter Kanzler Gerhard Schröder bejahte der Bundestag eine limitierte Beteiligung im Antiterror- und Afghanistan-Mandat durch zehn Stimmen mehr: bis zu 3.900 Mann zur See, 100 Spezialkräfte am Boden, aber keine Luftwaffe. Umgekehrt tauchten in Europa lebende Islamisten, auch Konvertiten, in Afghanistan als Jihadis auf, dort gegen ihre Landsleute.
In diesem Licht bildete die Bonner Afghanistan-Tagung und ihr Folgeprozess seit dem 27. November 2001 eine Leistung der deutschen Mittelostpolitik. Es folgten das Petersberg-Abkommen, die Wahl Hamid Karzais zum Präsident am 9. Oktober 2004, die Kabuler Wahlen und ein Parlament Ende 2004. Eines der rückständigsten Länder gab sich eines der modernsten Grundgesetze mit Gewaltenteilung, Menschen- und Bürgerrechten sowie Rechenschaftspflicht der Regierenden. Verbrieft sind überdies die Gleichbehandlung der Ethnien sowie von Frau und Mann. Indes, grau ist alle Theorie, grün des Lebens Baum.
Durch die Wahlen mit der Abfuhr gegen die Taliban gingen die Wähler der Islamischen Republik Afghanistan einen Megaschritt voran, auch wenn der weitere Weg noch dornig sein wird. Deutsche nahmen einen besonderen Anteil am Schicksal des Landes 1915, als sie von Kabul aus Indien revolutionieren wollten, 1937 als Afghanen die Nazi-Parteitage besuchten und 1941, da Hitler mit Islamisten gegen die Sowjets vorging. Heute können sich alle über den enormen Mut und die Kraft von Progressiven am Hindukusch freuen.
<emphasize>Wolfgang G. Schwanitz</emphasize>
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