Marita Wagner: Herr Kwubiri, was hat Sie zu diesem Bild inspiriert?
Chidi Kwubiri: Die Inspiration kommt aus meinem Heimatland, Nigeria. Dort gibt es zwei sehr lange Flüsse, den Niger und den Benue, die aus zwei unterschiedlichen Quellen entspringen und tausende von Kilometern durch verschiedene Länder fließen, bis sie in Lokoja, einem Ort in Nigeria, zusammenfließen, und gemeinsam friedvoll in den Atlantik münden. Für mich repräsentiert dieses Bild die Liebe und die Einheit, bei gleichzeitigem Respekt der Unterschiedlichkeit.
Marita Wagner: Hinter dem Bild steht eine bestimmte afrikanische Tradition, die sich Ubuntu nennt. Was versteht man unter Ubuntu und was bedeutet Ubuntu für Sie ganz persönlich?
Chidi Kwubiri: Ubuntu ist ein sehr bekanntes südafrikanisches Wort. Die Philosophie, die es repräsentiert, bezieht sich auf die weltweite, die universale Verbundenheit aller Menschen. Ich bin damit aufgewachsen und das ist für mich sehr wichtig. Es bildet das Beziehungsgeflecht ab, in dem Menschen stehen. Wir sind alle Teil dieses Planeten, wir sind Teil dieser Gesellschaft. Mir hat nie jemand gezeigt, was Ubuntu bedeutet, ich bin in diese Philosophie hineingeboren. Wenn ich Sie mit in mein Dorf nehmen würde, dann würden Sie sehen, wie die Hütten angeordnet sind. Sie sind in kleinen Siedlungen jeweils in einem Kreis angeordnet, weil eben alle zu einer dieser Siedlungen gehören, die zusammen das Dorf bilden. Es liegt auch in der Verantwortung des Dorfes, ein Kind aufzuziehen. Das Kind gehört zum Dorf. Wenn man von diesem Dorf weggeht, dann repräsentiert man die Dorfgemeinschaft. Man muss dafür sorgen, dass man nichts Schlechtes zurückbringt, sondern dass man etwas Gutes repräsentiert. Wenn man gefragt wird, wo man herkommt, dann ist man ein Vertreter dieses Dorfes. Das ist die Verantwortung, die ein jeder trägt. Ubuntu bezieht sich also auf das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Verbundenheit, in der Menschen stehen. Das Ganze kann man auch weiter übertragen auf Fragen des Glaubens. Das ist etwas, was wir auch schon in der Sonntagsschule gelernt haben, eben, dass es darum geht, gemeinsam zu sein, gemeinsam zu leben. Ein Kind wächst auf, man heiratet, man bekommt Kinder, man ist zugehörig. Man gehört zu einer Gemeinschaft dazu. Für mich als Künstler ist es ganz wichtig, das aufrechtzuerhalten.
In einem Dorf ist es zum Beispiel, wenn man eine Straftat begeht, die höchste Strafe, dass man aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen wird. Dies ist dann für die betroffene Familie die absolute Katastrophe. Die Philosophie der Zusammengehörigkeit ist sehr stark und zugleich verpflichtend. Da wo ich herkomme heißt es nicht Ubuntu, sondern Nzogbu-Nzogbu.
Marita Wagner: In welchem Verhältnis stehen also Ubuntu (bzw. Nzogbu-Nzogbu) und Religion? Bedeutet das, dass Ubuntu neben dem Glauben und Christentum steht bzw. es die Grundlage für den christlichen Glauben bildet?
Chidi Kwubiri: Ich kann nur sagen, wie es für meine Kultur ist. Da, wo ich hineingeboren wurde, da ist eben dieses Nzogbu-Nzogbu. Und dieses spielt eine Rolle, noch bevor man in die Kirche geht. Wenn man in die Kirche geht, dann erweitert sich das Ganze noch einmal. Aber diese Kultur ist da und sie ist wichtig, noch bevor man in die Kirche geht. Das mag in Südafrika anders sein, aber ich komme wie gesagt aus Westafrika.
Marita Wagner: Inwiefern ist es Ihnen hier in Deutschland möglich, diese Philosophie der Zusammengehörigkeit auszuleben, wo vielleicht nicht unbedingt jeder Mensch in dieser Haltung großgezogen wird? Können Sie ihre Spiritualität hier überhaupt praktizieren?
Chidi Kwubiri: Ich lebe es, weil ich einfach daran glaube. Und manchmal treffe ich Leute, mit denen ich dies auch teilen kann. Ich habe in Deutschland viel Hilfe erfahren, es haben mir Menschen geholfen und mich aufgenommen. Ich habe in Deutschland Liebe erfahren, aber durchaus auch Hass als Ausländer. Mein Eindruck ist es, dass die Deutschen das Leben ein bisschen gelassener angehen könnten. Denn sie haben im Grunde alles, was man zum Leben braucht, doch man sieht es ihnen nicht an. Wenn man auf der Straße geht, dann ist es schwierig für Leute, in Augenkontakt mit anderen zu treten. Sie sehen einfach sehr gestresst aus. Wenn ich nach Afrika komme und auf Kinder treffe, die zum Beispiel seit morgens nichts gegessen haben oder Menschen, die nichts haben, dann sind sie trotzdem fröhlich und glücklich, sie tanzen. Insofern würde ich den Deutschen mehr Gelassenheit wünschen.
Marita Wagner: Verbirgt sich hinter dieser Philosophie nicht aber auch eine gewisse Ideologie und somit ein hoher moralischer Anspruch, den man als Ziel anstrebt? Lässt sich Ubuntu tatsächlich realisieren?
Chidi Kwubiri: Mein Eindruck ist es, dass es etwas ganz Natürliches ist. Vor allem auch für mich als Künstler. Es ist kein Ziel, sondern etwas, worin ich hineingeboren bin, was zu mir gehört und woran ich glaube. Es ist das Wesen, die Essenz des Zusammengehörens und ist damit etwas ganz selbstverständliches. Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, dass wenn man alleine ist, man wie ein wildes Tier in der Wildnis ist, das zerrissen wird und verschwindet. Wenn man aber gemeinsam auf dem Weg ist, bildet man eine Gemeinschaft. Wenn wir an unsere Welt denken, an die Kinder und diejenigen Kinder, die noch kommen werden, dann ist es ja gerade diese Zusammengehörigkeit und das Miteinandersein, die die Welt zu einer besseren machen. Von daher ist es kein Ziel, sondern eine Lebenshaltung. Und ich strebe danach, das Tag für Tag zu leben, sowohl als Künstler als auch als Mitmensch.
Übersetzung des in Englisch geführten Interviews: Karin Rademacher
Das Interview wurde am 19.3. in Frankfurt geführt. Der in Deutschland lebende nigerianische Künstler Chidi Kwubiri stellte seine Bildkomposition „Ich bin, weil du bist“ in der Frankfurter Maria Hilf Kirche vor. Es ist das Motiv des Misereor-Hungertuches 2017. Im Interview erklärt der Künstler, inwiefern sein Bild das afrikanische Zusammengehörigkeitsgefühl auszudrücken vermag, welches im Südlichen Afrika als Ubuntu, und speziell in seinem Heimatland Nigeria als Nzogbu-Nzogbu verstanden wird. Er kommt dabei auch zu einem klaren gesellschaftsanalytischen Urteil: „Wir brauchen mehr Brücken, nicht mehr Mauern.“
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