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Ein Schutzraum gegen das „Leisten-müssen“

Anlässlich des Ökumenischen Kirchentages 2021 blickt dieser Artikel des Monatsthemas "Beten 2021" auf die Frage: "Wie beten junge Menschen im Jahr 2021?" Sachell Rapp bietet dazu Einblick in ein Projekt in Mainz, das über 140 Menschen verschiedener Konfessionen von 14 bis 89 Jahren anspricht.

Wie beten junge Menschen im Jahr 2021? Die Mainzer Pfarrgruppe Zaybachtal ermöglicht seit Februar 2020 eine Eucharistische Anbetung. 24 Stunden, 7 Tage die Woche.

Durch die graue Fassade und das dunkelgraue Dach wirkt der fensterlose und quadratische Bau eher wie ein Luftschutzbunker, das Relikt einer vergangenen Zeit. Doch dieser mitunter trostlose Eindruck verfliegt, wenn man sieht welch bunte Atmosphäre im Inneren herrscht. Betritt man den Bau durch die unscheinbare Tür, bemerkt man das durch die schmalen Fenster hereinströmende konzentrierte warme Licht. Es führt die Augen des Besuchers auf die Mitte des Raumes, auf einen Altar.

Die in den 1990er Jahren errichtete Kapelle der Heiligen Familie in Mainz-Bretzenheim ist der Ort für ein Experiment im Bistum Mainz. Seit Februar 2020 ist sie der Standort der „24/7-Anbetung“. An allen 168 Stunden der Woche ist ununterbrochen Eucharistische Anbetung möglich. Das von Gemeindemitgliedern getragene Projekt ist eine Neuheit im deutschsprachigen Raum.

Lange Anfahrt schreckt nicht ab

Angestoßen hat das Projekt die Schulseelsorgerin Ursula Schwarz. Inspiriert und unterstützt von Bernhard Hesse, dem Leiter der Charismatischen Erneuerung im Bistum Augsburg. „Ich fand es schade, dass die Kirche die meiste Zeit der Woche verschlossen ist“, so Schwarz. Doch nach mehreren Anläufen hat die Pastoralreferentin schließlich 2020 einen von ihr lang gehegten Traum verwirklicht. Denn brauche es, so fragt sie weiter, nicht jederzeit die Möglichkeit in die Kirche gehen zu können und sich der Gegenwart Gottes auszusetzten? Schwarz betont, man müsse zurück zu einer intensiveren Begegnung mit Gott.

Die Erfahrung, vor dem ausgesetzten Allerheiligsten den direkten Austausch mit Gott zu suchen, scheinen immer mehr Menschen im Umkreis von Mainz machen zu wollen. Mittlerweile sind es bis zu 140 Personen, im Alter von 14 bis 89 Jahren, die trotz Pandemie Woche für Woche in die Kapelle kommen. Im Gegensatz zur üblichen älteren Altersgruppe von Gottesdienstbesuchern, sind viele zwischen 20 und 35 Jahre alt. Einige nehmen sogar eine Anfahrt von über 30 Kilometern in Kauf.

Per Smartphone zur Anbetung

Zur besseren Organisation wird ein „Online-Anbetungskalender“ benutzt. Jeder kann sich, für eine ihr oder ihn passende Gebetszeit eintragen, damit eine kontinuierliche Anbetung gewährleistet ist. Alle können mit einem Blick auf das Smartphone sehen, ob jemand anwesend ist, eine Vertretung gesucht wird, gefunden wurde, oder ob ein Zeitraum noch nicht belegt wurde. So ist am Monatsanfang gewährleistet, dass stets alle einen Überblick haben, welche Zeiträume belegt sind, oder ob eine „Vertretung“ gesucht wird, so dass es zu keinem Ausfall kommt.

Innerhalb eines Jahres hat sich die 24/7-Anbetung zu einem „Vernetzungsschirm“ für andere Initiativen, Gebetsgruppen oder Angebote der Neuevangelisation entwickelt, meint Pastoralreferentin Ursula Schwarz. Doch was bringt über 140 Menschen nachts zwischen 23 Uhr und 5 Uhr dazu, zu einem grauen Betonbau zu fahren?

Die Stille kennt keine Ideologie

Nach der Meinung von Teilnehmenden ist es die Stille. Denn die Stille ist nicht „manipulativ“, so Ursula Schwarz. Die Kapelle selbst sei ein Raum ohne Vorgaben. Ein geschützter Raum, der nicht digitalisierbar ist. Ohne Ablenkungen oder Störungen. Keine schnell zu beantwortenden E-Mails oder plötzliche Anrufe. Die Stille ist frei und lässt Menschen frei sein. Sie kennt keine Ideologie. Direkt vor Gott müsse nach Rückmeldung von Betenden nichts geleistet oder getan werden.

Nach einem anstrengenden Arbeitstag möchten die Teilnehmenden nicht Katechesen folgen oder Bibelverse besprechen, sondern, so empfinden sie es, in der Stille mit dem Schöpfer reden oder in der Heiligen Schrift lesen. Vor dem Allerheiligsten verliert auch das Bekenntnis an Bedeutung. Nicht nur Katholiken finden sich unter den Mitbetern, sondern auch Mitglieder der evangelischen Landeskirche oder Freikirchler.

„Man darf einfach sein und muss nichts leisten“

„Jeder Betende trage Verantwortung.“, sagt Constanze. Die 23-Jährige studiert Soziale Arbeit und betet donnerstags zwischen 23 und 24 Uhr eine Stunde in der Kapelle. Sie sagt: „Es läuft nicht ohne jede einzelne Person. Man kann nicht einfach mal so absagen. Alle sind Teil von etwas und haben Anteil an etwas großem Gemeinsamen.“ Bei einer Nachtstunde müsse sie zwar schon manchmal gegen Müdigkeit ankämpfen, sagt Constanze. „Aber die Erfahrung der Ruhe ist es mir wert.“ Man dürfe in der Kapelle „einfach sein“ und müsse nichts vorgeben. Es falle ihr nicht immer leicht, „das leisten müssen abzulegen“. „Aber das Gespräch mit Gott, der Frieden, den ich dabei spüre, trägt mich durch die Woche. Meine Beziehung zum Schöpfer wird intensiver und Alltagssorgen fallen ab.“

Der graue Bunker schützt vor Alltagssorgen, Lärm und Unfrieden, die Kapelle wirkt als Schutzraum und ermöglicht die Erfahrung, mit Gott verbunden zu sein. Im Gespräch mit Gott in der Stille muss ich nichts leisten, sondern darf einfach sein. Ein Schutzraum vor dem “leisten-müssen“.

Dieser Artikel ist Beitrag des publicatio e.V.-Monatsthemas "Glauben 2021".
Alle Beiträge gibt es hier: https://explizit.net/monatsthema/.

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Kategorie: Religion Monatsthema

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