Eine Brücke zum erwachsenen Jesus schlagen, auch an Weihnachten. Denn das führt auch zu einer erwachsenen Spiritualität im Alltag. Das ist Pfarrer Dr. Dr. Hermann-Josef Wagener wichtig. Deshalb hat er sich lieber vor dem Altar (der steht für den erwachsenen Jesus) als vor der Krippe in der Kirche Maria Königin in Gladenbach fotografieren lassen. Foto: G. Bach / explizit.net

„Die Religiosität des Volkes wahrnehmen!“

„Der Gottesdienst, den wir heute pflegen, ist Gewohnheit. Und deshalb haben wir nur ab 60-Jährige da.“ Das sagt der Religionspsychologe und katholische Pfarrer Dr. Dr. Hermann-Josef Wagener. Er erlebe schon bei sich selbst, dass er aufgrund seines Alters an vielen Gewohnheiten hänge. „Junge Leute bis 50“ dagegen wollten das nicht, weiß er aus vielen religionspsychologischen Umfragen. Bewegung, Dynamik, und Veränderung sind in den jüngeren Milieus angesagt. „Das ist ein Widerspruch“, stellt er nüchtern fest.

Kindlicher, verniedlichter Gott

Zweimal im Jahr sind die Gottesdienste gut besucht, wie jüngst wieder zu Weihnachten. Das hat auch seinen Grund, weiß der Lehrbeauftragte und Mitarbeiter beim Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt. Die meisten Weihnachtsmotive zielten auf die Kindheit ab. Vieles werde verniedlicht, indem der „putzige kleine Gott in dem Kind Jesus Christus“ dargestellt werde. Der habe aber mit dem alltäglichen Leben der Leute nicht viel zu tun und werde deshalb von ihrem konkreten und anstrengenden Alltagsleben „abgespalten.“ Was bei vielen bleibe, sei „dieser feine idyllische kindhafte Glaube“, der aber keine Ressource für ihr konkretes Leben darstellen könne.

Deshalb sei es wichtig, eine Brücke zu dem erwachsenen Jesus zu schlagen. Erst von ihm her erhalte der christliche Glaube und auch Weihnachten die Lebensrelevanz. Auch wenn die meisten Menschen sonst das Jahr über nicht in die Kirche gehen, beteten sie noch, auch wenn man das nicht meine. Doch was Beten genau bedeutet, davon haben die Menschen verschiedenste Verständnisse. Wer eine kirchlich-religiöse Sozialisation erfahren hat, richte seine Wünsche an Gott: Er möge dies tun und das sein lassen. 12 bis 18 Prozent der Christen in Deutschland beteten so. Wenn die Wünsche dieser Beter aber nicht erfüllt werden, führe dies oft dazu, dass Menschen sich von ihrer kindlich-religiösen Erziehung und von der Kirche distanzierten. „Enttäuschungs-Atheismus“ nennt Wagener das.

Je erwachsener der Mensch im Glauben werde, desto häufiger könne er abstrakt denken und vergleichen. „Bei dem einen passiert das, bei mir nicht.“ Gott erscheine dann oft als willkürlich. Warum wird der eine vom Krebs geheilt, der andere nicht? An so einen unzuverlässigen Gott wollten viele nicht mehr glauben.

Das Leben selbst meistern

Etwas über die Hälfte der Menschen heute (50 – 60 Prozent) glaubten an die Mitwirkung im Gebet. Sie vertreten die Auffassung: „Ich muss auch etwas tun für das, worum ich bete.“ Frei nach dem bekannten Gebet: „Gott hat nur meine Hände, meine Füße.“ Ein Drittel der Christen denke heute viel weiter. „Sie fühlen sich in der Liebe Gottes geborgen, und aus dieser Liebe heraus versuchen sie, ihr Leben zu meistern.“ Im Gespräch mit Gott würden dann im Gebet auch Krisen und kritische Fragen dargelegt. Sie reden mit Gott, ohne zu meinen, er müsse an ihrer Situation etwas ändern. Sie wollen schon selbst die Veränderung bewirken. Im Gespräch mit Gott sehen sie klarer, werden einsichtsvoller, was zu einer Veränderung im Verhalten und in der Sichtweise zu sich selbst führen kann. Eine Veränderung wollen die Beter selbst bewirken und erwarten sie nicht von Gott.

Viele Christinnen und Christen (80 % ob jung oder alt) wollen nicht Beten in Gemeinschaft, weil ihre Situationen und Befindlichkeiten nicht in den Gebetstexten vorkomme; deshalb erleben sie Beten im Gottesdienst oft als eine Art Fremdbestimmung. Sie wollen sich mit ihrem Leben in der Liturgie und im Ritus wiederfinden und nicht, sich fremdempfundenen liturgischen Texten anpassen. Denn in den von der Kirche in der Liturgie vorgegebenen Gebeten kämen viele Situationen und Befindlichkeiten der Menschen“ gar nicht mehr vor, stellt Wagener immer häufiger fest. Doch wenn Menschen zusammen mit anderen aktiv werden, dann erführen sie Gottes Gegenwart. Deshalb plädiert Wagener für eine Vielfalt von „Modellen und Liturgieformen in Bewegung“ wie Pilgerwanderungen und Pilgerreisen. Mitten im Gemeinschaftserlebnis erfahren sie die Gegenwart Gottes.

„Da zeigt sich, dass die Leute ein anderes Gottesverständnis haben. Sie erfahren Gott mehr 'im Beziehungsgeschehen' und weniger als Gegenüber, das ich anbete“. Einige Liturgieformen seien vor allem von einem Mechanismus geprägt: Gott sei immer das Gegenüber, das man anbete. Für Wagener eine ergänzungswürdige Vorstellung, weil sie gerade bei den meisten jungen Menschen nicht mehr funktioniere. Sie erleben Gott eher in Aktion und Bewegung, in Musik. Kirche habe der Gesellschaft, also dem Volk zu dienen. Und wer an Volkskirche festhält, der müsse auch die Religiosität des Volkes, das heißt der Mehrheit, wahrnehmen. Eine Herausforderung.


Kategorie: Religion explizit.net Kirche

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