Donnerstag, 24. Februar, 5.30 Uhr. Ich bin aufgewacht und hörte nervöses Reden von meinen Eltern. Dann Geräusche wie Donner. Mein Herz erstarrte. Ich dachte: Es kann nicht sein. Dann kam meine Mutter mit den Worten herein: Steh auf, es hat begonnen. Das war der schrecklichste Morgen in meinem Leben, so wie im Leben aller Ukrainer und Ukrainerinnen.
Im Internet gab es nur wenige Informationen, aber sicher schrieben alle Kyiver, dass sie Explosionen in verschiedenen Teilen der Stadt gehört haben. Einige vermuteten, dass unsere ukrainischen Flugzeuge getestet werden, andere, dass das Angriffe einer Untergrundbewegung sind, dritte, dass Russland angegriffen hat. Gegen 7 Uhr morgens hat sich dann Präsident Wolodymyr Selenskyj an alle Ukrainer und Ukrainerinnen gewandt: Russland hat die Ukraine angegriffen. Keine Chancen. Keine Vermutungen, Befürchtungen oder Verhandlungen, ein echter Krieg mit Raketen, Panzern, Waffen, Explosionen und Toten.
Der Krieg war abzusehen
Berichte über die mögliche Invasion Russlands hatte den Informationsraum seit langem erobert. Zum ersten Mal am 16. Februar, dann am 20. Februar. Die Angaben hatten sich nur in dem Punkt geändert, wann die Invasion zu erwarten sei. Die Spannung lag in der Luft, obwohl wir, die Ukrainer es mehr als Hybridkrieg und psychologischen Druck betrachteten. Wir hatten angefangen zu lesen, wo sich die Luftschutzbunker befinden und was man in den sogenannten “Alarmrucksack” packen muss. Wir leben bereits seit 8 Jahren im Kriegszustand, noch länger im Informationskrieg. Aber die Tatsache, dass russische Panzer mitten durch ukrainische Städte fahren würden, schien völlig absurd. Absurd für die ganze zivilisierte Welt, nicht aber für den russischen Präsidenten Putin.
Als der 24. Februar kam, hatte ich keinen “Alarmrucksack”. Ich sah meine friedlich schlafende Katze auf dem Sofa an und verstand, die friedliche Zeit war dahin. Der 24. Februar 2022 ist der Tag, an dem sich das Leben von 44 Millionen für immer geändert hat.
Telefonat mit den Verwandten in Russland
Bis zum Mittag saßen meine Familie und ich vor dem Fernseher und hörten uns jedes Wort an. Wir wollten den Beweis finden, dass der ganze Albtraum nur ein Traum ist. Aber wir bekamen die erleichternde Nachricht nicht, stattdessen die, Putin beginne eine “Militäroperation”, um die Ukraine vor „Nazis“ und “Kriminellen an der Macht” zu „retten“, so behauptet von den russischen Medien. Goebbels hätte diese Propagandaleistungen hochgeschätzt.
Später hat meine Mutter den Anruf von einer Verwandten aus Russland bekommen. Die Russen waren überzeugt, dass Putin mit einer Friedensmission gekommen ist und wir unter dem unerträglichen Naziregime leiden würden. Meine Mutter begann, mit der Verwandten zu streiten, etwas zu beweisen. Aber das machte keinen Sinn. Die Narrative der “russischen Welt” sind so stark im Bewusstsein der Russen verankert, dass sie selbst der eigenen Familie nicht glauben. Ich war empört und fühlte mich gleichzeitig hilflos.
Wir verlassen Kyiv
Meine Familie und ich beschlossen, Kyiv zu verlassen. Das war bereits am ersten Kriegstag. Mein Bruder und seine Frau mit dem drei Monate alten Baby haben sich für das Gleiche entschieden. Als ich packte, wusste ich zuerst nicht, was ich mitnehmen sollte: Wenn das Ganze in ein paar Tagen zum Ende kommt, sind wir bald zurück und zwei Pullover und ein Paar Jeans reichen mir. Und wenn dieser Horror lange anhält, ist es egal, wie viele Pullover ich mitnehme. Alles ist eigentlich völlig egal. Ich warf den letzten Blick auf meine Wohnung, schloss die Tür und dachte: Die Menschen aus Luhansk und Donezk haben wahrscheinlich auch gedacht, dass sie bald zurückkehren würden. Entsetzt vertrieb ich diese Gedanken.
Jetzt beginnt mein Morgen, wenn er überhaupt beginnt und nicht von einem Tag zum anderen fließt, mit derselben Nachricht an alle Liebsten: "Wie geht es?” Welche Antwort ich bekomme, spielt eigentliche keine Rolle. Das Wichtigste ist, überhaupt eine Antwort zu bekommen. Jeder Tag ist durch ständige Erwartung, Gebet und mögliche Hilfe geprägt. Und so sieht der Tagesablauf von vielen Ukrainern aus, wenn sie nicht in Luftschutzbunkern sitzen, um sich vor Beschießung und Bombenangriffen verstecken.
Wie der Hass wächst
Ich hätte nicht einmal gedacht, dass ich so stark hassen könnte. Das überfiel mich, als ich nach einigen Tagen erfuhr, dass die russischen Truppen Zivilisten mitten am Tag auf den Straßen ukrainischer Städte erschießen und Kinderheime, Krankenhäuser, Wohnblocks bombardieren würden. Hass kennt keine Grenzen, jetzt weiß ich es genau.
Die Hauptstadt und die Ausfahrt daraus wurden zu einem durchgehenden Stau. Trotz der Staus und Ungewissheit haben wir beschlossen loszufahren. Wir fuhren fast schweigend, ließen das Handy nicht los und verfolgten die Nachrichten. Mein Vater war sehr nervös, an den Tankstellen gab es kaum Benzin, alle fuhren in Richtung Westukraine, in Richtung Unbekanntes. Nach Mitternacht erreichten wir das Dorf im Gebiet von Winnyzja.
Warum kämpfen die Ukrainer:
Inzwischen sind viele Städte entweder zerstört oder stark beschädigt, etwa 900 Tausend Ukrainer sind ins Ausland geflohen, mehr als 2000 Zivilisten sind getötet, darunter 38 Kinder (Stand 6.März). Während der Verhandlungen werden die Städte weiter bombardiert. In den humanitären Korridoren werden die Zivilisten beschossen. Das ist kein Krieg mehr, das ist Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung, ausgeführt von Putins Reich.
Trotzdem halten wir aus und sind von unserem Sieg überzeugt. Warum? Wir sind auf unserem Land, wir haben jahrhundertelang für unsere Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft und machen es jetzt wieder- Unsere Armee ist für uns ein Superheld, auf den wir jetzt mehr setzen als auf Gott. Wenn ich sehe, wie gewöhnliche Stadtbewohner die Panzer mit bloßen Händen anhalten, habe ich keinen Zweifel daran, dass der Sieg auf unserer Seite ist. Die 20-jährigen Frauen wissen genau, wohin sie einen Molotow-Cocktail werfen müssen, um einen Panzer zu neutralisieren. Wir können die feindliche Militärtechnik von der ukrainischen unterscheiden. Unser Präsident, die Streitkräfte der Ukraine, alle möglichen Militäreinheiten, Volonteers, unsere IT- sowie Internet-Armee, die ukrainische Gemeinschaft im Ausland und jeder einzelne Ukrainer lässt keine Zweifel daran, dass Sieg das Einzige ist, auf das wir setzen.
Die Unterstützung muss weitergehen
Die ganze Welt unterstützt jetzt die Ukraine nicht nur mit Worten, sondern auch mit den richtigen Taten. Europa und die Vereinigten Staaten müssen lockerlassen, denn von ihrer militärischen und humanitären Hilfe und dem Druck auf Russland hängt vieles ab. Das ist kein Krieg mehr zwischen der Ukraine und Russland, das ist der allerletzte Kampf zwischen der demokratischen Welt und der Tyrannei. Jeder muss sich dessen bewusst sein.
Warum die Russen erst mit frischen Trupen Kiew erobern könnten: Warum kommen russische Panzer nur langsam voran
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Warum interessieren wir uns so einseitig für die Psyche Putins, interessanter ist doch die Psyche der Ukrainer:innen: Wo heraus schöpfen sie diese Widerstandskraft.
Maria Karapata ist Kiewerin und beschreibt, wie sie die Angriffe erlebt und warum sie gar nicht daran denkt, dass Russland die Ukraine unterwerfen könnte.
Sie hat Germanistik studiert. Sie spricht sehr gut Deutsch, der Artikel oben ist keine Übersetzung.
Als Studentin war sie von November 2013 auf dem Majdan dabei, wo die Studenten auf den Eingriff Putins reagierten, der dem damaligen Präsidenten verbot, das lange ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben.
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Weitere Artikel der Autorin zur Entwicklung der Ukraine hier: Ukraine - eine Nation baut ihren Staat
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