Zum Foto: Welchen Beitrag kann die chinesische Medizin leisten?
Es gibt zwei gegenläufige Momente im Nebel um den Coronavirus: Einerseits wird die Lage unübersichtlicher. Neue Infektionscluster treten auf, das Virus verbreitet sich in unterschiedlichen Gegenden. Dadurch wird die Informationssituation unübersichtlicher, aufwändiger und schwerer einzuschätzen. Andererseits wird die wissenschaftliche Lage besser. Mehr Datensätze, mehr Wissen über die Beschaffenheit, die Ausbreitungswege, die Therapiemöglichkeiten, die Auswirkungen überhaupt. Betrachten wir beide Momente.
Epidemische Situation in Deutschland
Der Virus hat quasi alle Bundesländer in Deutschland erreicht. Es haben sich Cluster gebildet. Die Gesamtzahl der Infektionen deckt sich dabei mit exponentiellen Prozessen. Die Lage wird sich also schnell verschärfen, wenn die Cluster nicht isoliert werden. Das ist die aktuelle Strategie der Regierung. Cluster sollen identifiziert und isoliert werden. Die Infektionsketten sollen unterbrochen werden. Damit die epidemische Situation entschärft werden kann, müssen alle Cluster identifiziert und isoliert werden. Dazu braucht man die Index-Fälle, also den ersten Infizierten. Von dort kann man die Kontaktpersonen zurückverfolgen und in Hausquarantäne stellen. Dadurch wird effektiv eine Ausbreitung vermieden.
Diese Strategie macht in der frühen Phase gemäß des nationalen Pandemieplans Sinn. Allerdings gibt es hierbei mehrere Probleme:
[1] Die Index-Fälle sind nicht identifiziert.
[2] Die Zahl der Kontakte ist so weitläufig, daß leicht Übertragungswege „durch die Lappen gehen“. [3] Die Verbreitung des Virus geht asymptomatisch vonstatten. Die potentiellen Kontaktpersonen können schon virulent sein. Dadurch steigt die Zahl der zu verfolgenden Kontaktpersonen innerhalb weniger Tage in eine Größenordnung, die niemand erfassen kann.
[4] Das Virus kam über eine Lücke im Reiseverkehr ins Land. Diese Lücke besteht weiterhin. Selbst wenn also alle Cluster irgendwie doch noch identifiziert und isoliert würden, könnten neue Cluster unabhängig davon entstehen.
[5] Die selektive Testung auf den Virus spürt keine Lücken auf. Momentan werden nur Menschen getestet, die Kontakt zu einer nachweislich infizierten Person hatten oder die sich in China aufhielten. So kann der Virus sich „unter dem Radar“ weiter ausbreiten.
Es wird nach dem Plan für ein Grippevirus gehandelt
Der nationale Pandemieplan, der auf eine Influenza-Infektion ausgerichtet ist, hat gegenüber dem neuartigen Coronavirus einige Defizite. Wesentliche Unterschiede hierzu sind die asymptomatische Verbreitung des Virus und die Zahl der vorgesehenen Krankenhausplätze im Fall der flächendeckenden Verbreitung. Hierbei verwundern insbesondere die Engpässe an medizinischer Schutzausrüstung (Mundschutz, Handschuhe, Kittel, Desinfektionsmittel). Solche Probleme wären erst für eine spätere Phase der Epidemie zu erwarten gewesen. Es ist eine Zumutung, angesichts des entschlossenen, massiven Handelns Chinas, das uns über einen Monat Zeit gegeben hat, uns vorzubereiten. Diese Zeit wurde verschwendet. Zudem kommt der Aspekt hinzu, dass der nationale Pandemieplan bereits seit dem Lockdown Wuhans am 23. Januar eine Revision hätte erfahren müssen. Die Maßnahme „Lockdown“ steht im Pandemieplan nicht in der frühen Phase, sondern in späteren Phasen. Das hätte irritieren müssen. Diese Kritik gilt nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der WHO, die ebenfalls keine entsprechenden Anpassungen und Vorsichtsmaßnahmen propagierte.
Flächendeckende Tests
Eine Änderungsmaßnahme wäre die flächendeckende Testung auf den Virus wie in China, Südkorea und Italien gezeigt. Diese Maßnahme würde vor allem Transparenz schaffen und das Vertrauen in die Regierung erhöhen. Die USA wechselt derzeit ihre Strategie von selektiven Tests hin zu flächendeckenden. Ab nächster Woche sollen dort 1,5 Millionen Testkits verfügbar sein. Das Vorbild Südkoreas, den Test als Drive-in zu gestalten, scheint eine weitere kluge Maßnahme zu sein. So werden Arztpraxen und Notaufnahmen entlastet und Gesundheitsämter könnten gezielt an einem Ort Daten sammeln, statt ihre Daten aus vielen Orten über komplizierte Meldesysteme zu beziehen.
Antibiotika werden mehr gebraucht
Zu dem Problem der Schutzausrüstung gesellt sich ein neues, massives Problem hinzu: Indien, Hauptexporteur von Generika, also medizinischen Präparaten, hat den Export dieser untersagt. Sie werden in Indien gebraucht. Genauer gesagt werden diese Präparate überall in der Welt gebraucht. Es kommt in Kürze zu Engpässen in diesem Sektor. Damit sind zwei Folgen verbunden:
[1] An COVID-19 schwer erkrankte Menschen benötigen Antibiotika, um Sekundärinfektionen mit Bakterien zu verhindern. Durch den Virus sterben Zellen ab und hinterlassen Lücken im Zellverbund. In diese Lücken können Bakterien kommen, die schwere Komplikationen der Krankheit zufügen. Daher ist die Gabe von Antibiotika immens wichtig.
[2] Menschen, die andere Erkrankungen haben (z.B. Influenza, bakterielle Infekte, aber auch offene Wunden) benötigen ebenfalls Antibiotika. Die Epidemie hat damit auch Auswirkungen auf die medizinische Versorgung bei anderen Erkrankungen.
Eine Möglichkeit, die Lage etwas hier zu verbessern, wäre, daß gesundete Patienten, egal ob COVID-10, Grippe oder andere Krankheiten, die ihre Antibiotika nicht mehr benötigen, an offiziellen Stellen abgeben, damit andere Menschen davon profitieren können. Sonst verrotten diese Präparate ungenutzt in den Hausapotheken zahlreicher Haushalte.
Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse
Die WHO hat am 3. März eine neue Schätzung über die zu erwartende Letalität abgegeben. Sie schätzt derzeit die Letalität mit 3,4 % ein. Das ist ungefähr das 1,5fache der Spanischen Grippe von 1918 und mehr als das 30fache der saisonalen Influenza. Was oft dabei verwechselt wird: Der Sprachgebrauch in Deutschland unterscheidet nicht zwischen Grippe und Erkältung. Die „Grippe“ im Sinne der Erkältung (sog. grippaler Infekt) wird nicht durch Influenza ausgelöst, sondern durch Rhinoviren. Sie ist damit nicht mit der „echten Grippe“ zu verwechseln. Der neuartige Coronavirus SARS-nCov-2 ist nicht 30fache tödlicher als die Erkältung, sondern als die echte Grippe.
Der SARS-nCov-2 Virus hat laut einer chinesischen Studie mutiert. Es gibt nun zwei Virenstämme, die endemisch sein können. Man unterscheidet die Stämme in S- und L-Typ und betreffen die Art und Weise, wie sich der Virus im Körper verbreitet. Der ursprüngliche Typ ist wohl der S-Typ, die Mutation der L-Typ. Man schätzt, dass etwa 70 % der Fälle in Wuhan dem L-Typ zuzuordnen sind. Dieser Typ ist virulenter und führt zu schwereren Ausbrüchen der Krankheit. Welcher Typ sich wo außerhalb Chinas verbreitet hat, ist derzeit unbekannt.
Die zwei Stämme haben mehrere Folgen für die Situation:
[1] Ein Patient kann beide Typen gleichzeitig in sich tragen (nachgewiesen in Proben vom 21. Januar).
[2] Ein Patient kann womöglich in zwei Wellen erkranken, einmal mit S-Typ, einmal mit L-Typ. Das wäre eine Erklärung für die Meldung aus Japan, dass eine Frau zweimal erkrankt sei. Diese Situation entspricht dann der saisonalen Grippe, wofür jedes Jahr eine neue Impfung erforderlich ist.
[3] Möglicherweise müssen nun zwei separate Impfstoffe entwickelt werden. Es ist derzeit unklar, ob eine Impfung gegen den S-Typ auch vor dem L-Typ schützen würde und umgekehrt oder ob zwei Impfungen unabhängig voneinander nötig sein werden.
[4] Es ist möglich, dass weitere Stämme des SARS-nCov-2 hinzukommen, indem einer oder beide Typen mutieren. Derzeit wird SARS-nCov-2 als stabil betrachtet. Die Mutation gilt als unwahrscheinlich aber möglich.
Link zu Ausbreitung der Infektionen
Eine neue offene Fragestellung betrifft die Abwassersituation: Es ist nachgewiesen worden, dass in einigen Fällen Fäkalien den Virus enthalten. Daher breitet er sich vor allem in öffentlichen Toiletten aus. Über die Toiletten gelangt der Virus in die Kanalisation und so in das Abwassersystem. Eventuell müssen auch hier Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um neue Infektionsketten zu verhindern.
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