Am 6. April 2021 ist der Schweizer Theologe Hans Küng im Alter von 93 Jahren gestorben. Er hatte große Ähnlichkeit mit denen, die heute als „Influencer“ betitelt werden. Fachliche Innovativität, hohe mediale Präsenz, beste Vernetzung, eine gute Portion Selbst- und Sendungsbewusstsein –ideale Voraussetzungen für eine Karriere als Influencer. Auch wenn Küngs Einflusskanäle hauptsächlich analoger Art waren, hat sein Denken über die theologische Fachwelt hinaus Kreise gezogen und Generationen von Christinnen und Christen geprägt. Theologie war für Hans Küng nicht Privileg der Wenigen im Elfenbeinturm, sondern musste alle Gläubigen angehen. Insofern ist nicht verwunderlich, dass er die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit stets gesucht hat. Sein einstiger Freund und späterer Antipode, Joseph Ratzinger, wurde im buchstäblichen Sinne zum Pontifex, Küng in vielerlei Hinsicht zum Brückenbauer.
Brückenbauer im „Geist des Konzils“
Schon in den ersten Jahren seines akademischen Wirkens bemühte sich Hans Küng um den Dialog zwischen den christlichen Konfessionen. In seiner Dissertationsschrift „Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung“ setzte er sich mit zentralen Fragen der Rechtfertigungslehre auseinander und kam zur Einsicht, dass die Differenzen zwischen den christlichen Konfessionen keinesfalls unüberbrückbar seien, sondern in vielen Punkten gar Übereinstimmung bestand. Der Vorstoß Küngs wurde mit der Gemeinsamen Erklärung des Lutherischen Weltbundes und der katholischen Kirche 1999 kirchenamtlich in Grundzügen bestätigt. Als junger Theologe auf den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der Universität Tübingen berufen, avancierte er schon bald zu einem der profiliertesten Vertreter seines Faches und bezog medienwirksam Stellung zu theologischen und gesellschaftspolitischen Streitfragen.
Mit 34 Jahren wurde er zum Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils berufen und war damit einer der jüngsten Teilnehmer. Auch wenn das Konzil manche seiner Erwartungen nicht erfüllte – insbesondere zu Fragen der Frauenordination, des Zölibats oder auch dem Primat des Papstes –, beschwor Hans Küng doch sein Leben lang den „Geist des Konzils“. Das Konzil war für ihn Inbegriff der Hinwendung der Kirche zur Welt, Anlass für das kritische Hinterfragen von Glaubenswahrheiten, und ist letztlich zum Bezugspunkt seines persönlichen Schaffens geworden.
Streitlustiger „Kirchenkritiker“?
Schon früh waren seine Äußerungen zu theologischen Streitfragen in Rom aufgefallen, es kam zur Auseinandersetzung mit der kirchlichen Obrigkeit und schließlich 1979 zum „Showdown“, als die Deutsche Bischofskonferenz ihm die Lehrerlaubnis und damit beinahe die Existenzgrundlage als Wissenschaftler entzog.
Seine offene Konfrontation mit der Glaubenskongregation könnte dazu verleiten, Hans Küng vorschnell als „Kirchenkritiker“ abzustempeln. Er ist aber seiner Kirche lebenslang treu geblieben. Als katholischer Priester und Seelsorger sah er seinen Platz trotz aller Enttäuschungen in der Kirche. Auch wenn eine offizielle Rehabilitation Küngs ausgeblieben ist, zeugen etwa seine Treffen und Briefwechsel mit Papst Benedikt XVI. und Franziskus davon, dass Hans Küng ein Leben lang mit „seiner“ Kirche gerungen hat.
Sensibel, nicht konfliktscheu
Kritik an der Kirche übte Hans Küng nicht etwa deshalb, weil ihm die Kirche verhasst gewesen wäre, sondern gerade, weil er sie liebte. Insofern verstummte der Seelsorger und Theologe Küng nicht angesichts von Missständen und verharrte auch nicht im Schäfchengehorsam. Weil Hans Küng sein wissenschaftliches Arbeiten mit existenziellen Fragen verband, war sein Lebensweg mit und in der Kirche kein Spaziergang, sondern über lange Strecken auch ein Leidensweg.
In welch innerem Zwiespalt sich Küng im Zuge der Auseinandersetzungen um seine Positionen befunden haben muss, lässt sich selbst nach der Lektüre seiner autobiographischen Schriften nur erahnen. Bekannte Küngs beschreiben ihn als sensible, nie streitlustige Person. Wenn es darauf ankam, scheute er den Konflikt jedoch nicht.
Persönlich beeindruckt hat mich die Konsequenz, mit der Hans Küng für seine Positionen eingetreten ist. Es wäre nachvollziehbar gewesen, wenn er sich angesichts des Gegenwinds aus Rom gänzlich von der Kirche abgewandt hätte. Statt in resignierendes Schweigen oder verbissenes Anklagen zu verfallen, warb er bis zuletzt um Verständnis für seine Anliegen. der Entzug der Lehrerlaubnis mündet für Küng nicht in Ohnmacht, sondern beflügelte seine ungeheure Schaffenskraft noch. Davon zeugt sein interreligiöses Projekt „Weltethos“, dem er sich die letzten Jahrzehnte seines Lebens gewidmet hat.
Christ/in-Sein heute – als Influencer/in und Follower
Gerade heute wird Hans Küng für mich zum Vorbild und Propheten, seine Reformanliegen sind von tragischer Aktualität: Verbrechen des sexuellen und geistlichen Missbrauchs im Innersten der Kirche, verhärtete Machtstrukturen und institutionelle Fehlentwicklungen. Selbst wenn man mit den Positionen Küngs im Detail nicht übereinstimmen mag, seine kritische Haltung war prophetisch und zukunftsweisend. Während Joseph Ratzinger jahrzehntelang auf die Verantwortung des Glaubens vor der Vernunft drängte, lag Hans Küng besonders die Verantwortung des Glaubens vor dem eigenen Gewissen am Herzen.
Andauernde Missstände in der Kirche fordern mich als jungen Christen heraus, Stellung zu beziehen und mein Kirche-Sein vor mir selbst, vor anderen und vor Gott zu verantworten – in der Kirche und nötigenfalls auch gegen kirchliche Widerstände. Von Hans Küng lerne ich dabei vor allem eines: Wer sich heute als Follower/in der christlichen Message verstehen will, muss selbst Influencer/in werden.
Die Beharrlichkeit, mit der Hans Küng ein Leben lang mit kirchlichen Positionen gerungen hat, ist insofern authentisches und beeindruckendes Glaubenszeugnis. So bleibt Hans Küng für mich als junger Mensch auch über seinen Tod hinaus wegweisender Influencer.
Ein Nachruf von Johannes Ludwig - (Foto: Manfred Grohe / Stiftung Weltethos)
Lesetipp - der aktuelle Wochenkommentar bei kath.de:
Während für Johannes Ludwig, Jahrgang 1996, Hans Küng als Influencer und Prophet gilt, beschreibt Benedikt Winkler, geboren 1988, den Schweizer Theologen als Vorbild für die Millennial-Generation. Lesen Sie auf kath.de seinen Nachruf: "Weltethos für Millennials"
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