Über die Entstehung zweier Kirchenlieder in Unna
Kann mit moralisch verwerflichen Mitteln, kann gar mit Gewalt ein gutes Ziel erreicht werden? Nein, antworten wir aus tiefster Überzeugung unserer christlichen Tradition, der Weg ist immer Teil des Zieles. Wenn der Weg schon falsch beschritten wird, kann ein gutes Ziel niemals erreicht werden.
Und doch sperrt sich unser Leben gegen fest gefügte, scheinbar unumstößliche Regeln und zeigt, dass es vielfältiger und widersprüchlicher ist. Deshalb muss bei dem Thema, wie sich die Reformation in Unna durchsetzte, von einer berühmten Rauferei erzählt werden, von einer wüsten Auseinandersetzung, die in der Stadtkirche von Unna stattgefunden hat. Und handfeste Auseinandersetzungen können sicher nicht als gelungener Auftakt einer guten Sache gewertet werden.
Dabei ging es gar nicht, wie man vermuten könnte, um die später, im Dreißigjährigen Krieg, entsetzlich blutige Auseinandersetzung zwischen Protestantismus und Katholizismus, nein, es ging um den Kampf der Lutheraner gegen die Reformierten. In diese beiden Fraktionen war die Bevölkerung von Unna hauptsächlich gespalten. Die Kaufleute neigten in diesem Konflikt aufgrund ihrer guten Kontakte zum handelsoffenen Holland dem Calvinismus zu. Hollands Kaufleute waren Calvinisten und sie waren vor allem reich, was natürlich ein denkbar gutes Vorbild für die Unnaer Kollegen war. Deshalb beriefen sie den aus Essen stammenden Magister Berger zum Hilfsprediger, der in strenger calvinistischer Tradition sofort alle Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ, während die Lutheraner den jungen Joachim Kersting auswählten, der in Jena studierte. Und zwischen diesen beiden ist es eines Sonntags zu einer denkwürdigen Begegnung gekommen.
Altbürgermeister Brabender hatte Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung gegeben, den Lutheraner Kersting auf keinen Fall auf die Kanzel zu lassen, sondern selber zu predigen. Mit einem Trick gelang es ihm außerdem, die Lutheraner vom Gottesdienst auszusperren, und während sie draußen mit Fäusten verzweifelt gegen die geschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte in der Kirche Kersting - ganz auf sich allein gestellt - seinen heroischen Kampf. Denn natürlich war klar, dass er seinerseits Berger, den Calvinisten, nicht auf die Kanzel lassen durfte, um von dort dessen Predigt anhören zu müssen. Es gelang ihm, sich am Treppenaufgang zur Kanzel festzuklammern, um Berger, der an ihm zerrte, an ihm riss und ihn mit Macht zur Seite drängen wollte, am Aufstieg zu hindern. Der Mantel wurde Kersting dabei zerrissen, Kratzwunden musste er hinnehmen, blaue Flecke, aber was ist das alles schon im Kampf für den rechten Glauben? Schreie, das Reißen von Stoff, das Trommeln der Fäuste gegen die Türen, alles folgte einer verständlichen Logik: Wenn mein Gott der richtige ist, dann muss dein anderer Gott falsch sein. Also musst du, wenn du nicht von ihm lassen willst, bekämpft werden. Schließlich gelang es den Lutheranern, durch eine Seitentür in die Kirche einzudringen und die reformierten Gegner zu verjagen.
„Ein feste Burg ist unser Gott …“
Erst in Folge dieses Sieges kam der berühmte Theologe Philipp Nicolai nach Unna. Weil er in der waldeckschen Landessynode, wo er vorher tätig gewesen war, Calvinisten als Irrlehrer bezeichnet und exkommuniziert hatte, schien er der richtige Mann zu sein, um den gewonnenen Kampf um die Kanzel zu einem endgültigen Sieg über den Calvinismus zu verwandeln.
Dazu aber kam es nicht, denn 1597, quasi über Nacht, brach in Unna die Pest aus und nicht der strenge Lutheraner Nicolai war fortan gefragt, sondern der tröstende Seelsorger, der er zweifelsohne auch war. Zu den Kranken ist er gegangen, zu den Sterbenden, hinter seinem Pfarrhaus türmten sich die Särge und Nicolai hatte bis zu dreißig Beerdigungen am Tag. Auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting erlag der Seuche.
Nicolai hat diese schreckliche Aufgabe tapfer gemeistert, denn er vertraute Gott und fuhr nebenbei zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich stärkende Medizin zu besorgen. Spricht daraus Glaubenszweifel? Natürlich nicht, denn Gott ist Schöpfer aller Dinge, also auch der der Heilkräuter, die es deshalb zu nutzen gilt.
In den Abendstunden dieser zermürbenden Tage aber brauchte auch Nicolai Trost. Das Gottesreich, es wird kommen, diese Hoffnung war ihm gewiss. Für das Jahr 1670 hat er es in einem seiner Bücher vorausgesagt, aber bis dahin waren es noch gut siebzig Jahre und so lange konnten er und seine bedrängte Gemeinde nicht warten. Was blieb ihm anderes übrig, als es in seiner Literatur vorwegzunehmen? Und darin ist er den Schriftstellern ganz nah, in der Vorwegnahme einer besseren Welt in literarischen Texten, die doch gleichzeitig Kritik an der gegenwärtigen sind.
„Wie schön leuchtet der Morgenstern“, dichtete er und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, das berühmte Wächterlied, in dem, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Gottesreich die Rede ist. Ein Zeugnis barocker Brautmystik ist es, es folgt dem 45. Psalm und vor allem dem Gleichnis von den törichten und klugen Jungfrauen.
Man muss sich vorstellen, wie er da sitzt, in einer Abendstunde, allein in seinem Zimmer, nach wer weiß wie vielen Beerdigungen - Nicolai hat es vermutlich selbst vergessen - , Pest- und Verwesungsgeruch in der Nase, die Verzweiflungsschreie der Sterbenden im Ohr. Da übermannt es ihn und er dichtet sich das sehnlichst erhoffte Kommen der besseren Welt selbst herbei. Die wohl schönsten Lieder, die das Gesangbuch zu bieten hat, fließen ihm aus der Feder, zu denen kein Geringerer als Johann Sebastian Bach später Kantaten schrieb.
Aus zwei Gründen hat es der Weckruf des Wächterliedes - „Wachet auf, ruft uns die Stimme, der Wächter sehr hoch auf der Zinne …“ – vielen Christen besonders angetan.
Da ist einmal die Klarheit seines Rufes, die uns auch heute noch anspricht. Wachet auf, das heißt doch im Umkehrschluss: Ihr schlaft, wenn ihr die bessere Welt nicht seht. Die Wächter stehen zwar sehr hoch auf der Zinne, um den Bräutigam sehen zu können, aber seid getrost, sagt uns Nicolais Weckruf, er kommt gewiss. Wir, eure Wächter, haben ihn in der Ferne entdeckt.
Da ist zweitens die Eindeutigkeit seines Weltbildes, um die Nicolai zu beneiden ist. Er wusste noch genau, wer die Freunde waren, wer die Gegner und vor allem, wohin die Reise zu gehen hatte.
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