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Von Kalifat zu Kalifat

(explizit.net) Da Sunnijihadis in „Syroirakistan“ Schiiten bekämpfen, will „Kalif Ibrahim“ Geschichte seit Ende des Osmanenkalifats 1924 revidieren: „Auf ins sunnitische Kalifat“. Grenzen seien ungültig und neu zu ziehen. Freitag sprach er in der Großen Moschee Mossuls von Paradies, Hölle und Jihad, der mit Gut und Blut zu führen sei. Zwar stellten manche Abu Bakr al-Baghdadis Webvideo vom 4. Juli als Werbetrick hin, doch fragen viele, was es mit dem Jihadsturm historisch auf sich hat, der Mittelost zu erfassen droht. Ein Jahr zuvor befasste sich Boualem Sansal damit und edierte sein Buch als Übersicht zum Islamismus.

(explizit.net) Da Sunnijihadis in „Syroirakistan“ Schiiten bekämpfen, will „Kalif Ibrahim“ Geschichte seit Ende des Osmanenkalifats 1924 revidieren: „Auf ins sunnitische Kalifat“. Grenzen seien ungültig und neu zu ziehen. Freitag sprach er in der Großen Moschee Mossuls von Paradies, Hölle und Jihad, der mit Gut und Blut zu führen sei. Zwar stellten manche Abu Bakr al-Baghdadis Webvideo vom 4. Juli als Werbetrick hin, doch fragen viele, was es mit dem Jihadsturm historisch auf sich hat, der Mittelost zu erfassen droht. Ein Jahr zuvor befasste sich Boualem Sansal damit und edierte sein Buch als Übersicht zum Islamismus.

Wie Islamisten ausgreifen, lotet der in Algerien geborene und heute bei Algier lebende Sansal aus. Der frankophone Denker trat im Millennium durch fünf Romane auf, darunter der „Schwur der Barbaren“ und das „Dorf der Deutschen“. Letzterer birgt das Drama der Gebrüder Schiller. Sie entdeckten nach dem Tod ihres Vaters, dass er als Giftgasmischer in Auschwitz die „Endlösung“ betrieb. Dann rettete er sich durch einen Nazifluchtverein nach Kairo vor der Justiz. Ägyptens Präsident Abd an-Nasir sandte ihn weiter als Berater für die Algerische Befreiungsbewegung. Später, in Massakern des Bürgerkriegs, töteten ihn Islamisten samt seiner Frau 1994: diese waren Schillers Eltern. Sansal erhielt auch für die deutsch-algerische Holocaustrezeption den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Autobiografisches fällt auf. Geboren 1949, erlebte er selbst einen totalitären Mix grüner und roter Stränge im bürokratischen Sozialismus der algerischen und dorthin exportierten Sowjetart in der Eigenstaatlichkeit seit 1962. Zuvor kam in Algerien ein brauner Strang durch Nazis hinzu, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Nordafrika absetzten und oft zum Islam konvertierten. So beleuchtet Sansal Algeriens Weg nach dem Befreiungskrieg, wo er einen der Schillers sagen lässt, Islamismus und Nazismus seien „Jacke wie Hose“. Der Autor betont die „jihadistisch-terroristische Phase des Faschismus mit Machtwillen“.

Ursprünge

In diesem Licht folgte „Allahs Narren“. Laut Sansal nennt man so Islamisten, die sich im Ganztagsjob militant bewegen und Religion wie Jihad als ihre Priorität betreiben. Diese geballte Dosis halte sie in einer Art makabren Verzauberung, die sie allen gegenüber taub werden lasse. Für diese Übersicht zum Islamismus stellte Sansal zwei Punkte voran, von Albert Camus: „Wer die Dinge nicht beim Namen nennt, trägt zum Unglück der Welt bei.“ Und Jaques Prévert: „Wenn die Wahrheit nicht frei ist, dann ist die Freiheit nicht wahr.“

Offen, ehrlich und provokant ist diese kurze Umschau zum Islamismus. Dort geht es um Algeriens Weg vom Kolonialismus zum Islamismus; diesen heute; Identität und Zukunft Arabiens; die missliche Islamismuspolitik des Westens; und was daraus folgt. Der Anhang enthält Richtungen, Schulen, globale Proportionen und einen Auszug aus dem Buch „Al-Muqaddima“ Ibn Khalduns. Dieser große arabische Soziologe verfasste es bis 1380. Darin fallen zwei Wendungen auf, wonach arabisch eroberte Länder alsbald der Ruin ereile, und dass sich Araber infolge ihres „wilden Naturells“ einander kaum unterordnen wollen.

Ursprünge des Islamismus fasst Sansal zu kurz, erst seit den 1930er Jahren allein aus der Liaison von National- und Globalislamisten in der Muslimbruderschaft mit Wahhabiten Saudi-Arabiens. Zwar nennt er Jerusalems Großmufti Amin al-Husaini, der sich in jener Dekade an Adolf Hitler und Benito Mussolini hochrankte, einflussreichsten islamistischen Judenhasser, der ebenso den Bruderschaftsgründer Hasan al-Banna mit beeinflusst hat.

Doch verfehlte Sansal, im „Basiswissen Islam“ die deutsch-osmanische Jihadisierung des Islam durch islamistische Bruderschaften seit Dekaden vor dem und im Ersten Weltkrieg aufzuzeigen. Sie lieferten Pulver und Flamme der Urgewalt im Jihad gegen Kolonialisten des Westens und ihre lokalen Helfer, wie John Buchan in seinem Buch „Greenmantel“ 1916 enthüllt hat. Mutig zeigte Londons Kriegsreporter des deutschen Kaisers Ansatz, mit dem Islam Weltkriegspolitik über den Sultan-Kalif im Osmanenreich zu machen: im kolonialen Afrika und Asien. Reiche fielen und Staaten ohne Nationen erhielten Grenzen.

Panislamisten

Nach 1750 galten Muhammadanismus und Islamismus synonym . August Bebel benutzte 1884 im Buch zu Kulturperioden „Muhammadanismus“. Für Reformen im Osmanenreich 1856 und übernationale Panislamisten wie Jamal ad-Din al-Afghani, Muhammad Abduh, Rashid Rida und Abu al-Ala al-Maududi, förderte Istanbul den Islamismus bis Ende des Kalifats 1924. Es wechseln der reformerische Islamismus von oben und der revolutionäre Islamismus von unten. Acht Bruderschaften wuchs eine Hauptrolle zu. Kaiser Wilhelm II. sprach 1908 mit Blick auf Istanbul vom Islamismus als Ideologie und Bewegung. Die deutsch-osmanische Belebung des Panislamismus sollte das Osmanenreich erhalten: im Teiljihad „mit Ungläubigen gegen Ungläubige“. Abd al-Malik Hamza umriss eine Theorie des Islamismus 1915. All dies wirkte weiter. Die Bruderschaft neun folgte 1928 am Nil. Jihad richtete sich öfter auch gegen Schiiten, deren Dogmen angeblich „verfälscht“ seien.

Speziell seit Irans Revolte 1979 gelten Islamist/Islamisten, al-Islami/al-Islamiyyun, auch als Selbstidentifikation. Der Prediger Yusuf al-Qaradawi nennt sich Muslim und Islamist. Letztere wollen alle Muslime dominieren. Befürworter des Wortes „Islamismus“ meinen, dies erhelle das Woher und die Träger. Es wurde eine Mischideologie mit Regionalarten, totalitären Strängen und Weltmachtanspruch. Seit Muhammad Ibn Abd al-Wahhab als Frühislamist in Arabien nach 1700 eine Basis legte, setzten dies neun Generationen fort. Soll man das mit Kritikern wie Hamed Abdel-Samad „islamischen Faschismus“ nennen?

Sansal meint, während der gemäßigte dem radikalen Islamismus an die Macht verhelfe, weiche das kapitulationsreife Europa zurück. Viele hätten Angst, als islamfeindlich oder rassistisch attackiert zu werden. Das Schweigen der Intellektuellen sei die stärkste Kraft des Islamismus. Er breite sich infolge einer verfehlten Integrationspolitik aus. Der Islam geriet zur Schutz- und Trutzburg. Der Westen habe ihn voll unterschätzt, und zwar in 20 Ländern Arabiens und in Europa, Südamerika mit Brasilien, Russland und China. Anders als Sansal sagt, gab es doch Anläufe der an-Nahda, der afro-asiatischen Aufklärung und Moderne, vom Osmanenreich 1856, wo alle ungeachtet ihrer Religion als gleich erklärt wurden, bis Ahmad at-Tayyibs al-Azhar-Dokument 2011, wo Juden und Christen nach ihrem Gesetz leben dürfen (Ägyptens Verfassung 2013, § 3). Wer um Proto-, National- und Globalislamisten mehr erfahren möchte, der greife zu Sansals lehrreichem Büchlein.

Boualem Sansal: Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert. Deutsch von Regina Keil-Sagawe, Gifkendorf: Merlin Verlag 2014, 2. Aufl., 164 S.

<emphasize>Wolfgang G. Schwanitz</emphasize>



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