Kathedrale Amiens, Foto: explizit.net E.B.

Über die Anstrengung, sein Leben zu verändern

Ein blinder Bettler lagert am Rande von Jericho. Als Jesus vorbeizieht, verändert sich sein Leben grundlegend. Am Ende ist er geheilt. Jeder Mensch ist ein Stück weit Bartimäus. Was er tat, um geheilt zu werden, soll für jeden eine Hilfe sein, um vom blinden Bettler zu einem neuen Menschen gewandelt zu werden.

«Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!» - Der Ruf des Bartimäus scheint weit weg von dem, was man heute Lebenswirklichkeit nennt. Die meisten finden sich nicht als Bettler oder blind vor. Die Situation des Bartimäus ist ihnen fremd. Den meisten ist gar nicht bewusst, dass sich dieser Ruf in der Liturgie zum Schrei erhebt: «Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme dich unser!» Das Erbarmen Gottes kommt an der neuralgischen Stelle der Liturgie vor. Jesus zieht an der Versammlung vorüber. Im Sakrament der Eucharistie wird der Vorübergang des Herrn gefeiert: der Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens und der Einzug ins Gelobte Land. So wie Israel am Passahmahl teilnahm und daraufhin den Exodus beging, so beging Jesus das Passahmahl. Aus diesem Mahl wurde des Paschmahl, das Leidensmahl. Sein Auszug ist das Kreuz, Auferstehung das Gelobte Land. Die Kirche sitzt wie der blinde Bettler Bartimäus am Wegesrand und ruft dem vorüberziehenden Jesus zu. Sie bettelt um sein Erbarmen.

In der Liturgie geschieht dies, während das Brot gebrochen wird. Es ist Zeichen dafür, dass Christus, das wahre Lamm des Passahmahles, gebrochen wurde für uns. Das ist sein Vorübergang. Wir rufen daher wie Bartimäus: «Erbarme dich unser!» Bartimäus ruft zweimal. Der zweite Ruf übersteigt den ersten und wird zum Schrei. Es wird lauter. Manchmal fragt man sich, warum es Wiederholungen in der Liturgie gibt. Warum zweimal «Erbarme dich unser!»? Weil Bartimäus schreien musste, um durch die Menge durchzudringen. Daher müssen wir auch zweimal schreien, damit unser Rufen den Weg durch die Menge findet und bei Gott gehört wird.

Nun gilt der Einwand, dass Gott doch auch unser leises Rufen hört. Warum also überhaupt schreien und dazu noch zweimal? – Bartimäus liefert uns die Antwort. Zwischen uns und Gott gibt es eine dritte Größe: die Menge, die Jesus hinterherzieht und die man manchmal mit dessen Kirche verwechselt wird. Sie wird ärgerlich und befiehlt zu schweigen. Diese Lebenswirklichkeit scheint heute vertrauter zu sein.

Der Ruf des Bartimäus dringt durch diese Menge hindurch. Dazu muss Bartimäus Kräfte aufbringen. Er muss sich überwinden. Er darf nicht klein beigeben. Der zweite Ruf ist nötig. Nicht weil sich Jesus dadurch ändert, sondern weil sich dadurch Bartimäus ändert. Sogar die Menge ändert sich daraufhin. Es liegt Kraft und Segen in dem zweiten Rufen.

Jesus hört den Ruf und bleibt stehen. Es ist kein Verweilen, keine Pause. Es ist mehr ein Standbild. Als würde man die Stopptaste bei einem Film drücken. In der Liturgie soll genau das passieren: Das Zeitgefüge kommt aus dem Ruder. Die Liturgie läuft linear weiter, während sich Jesus für die Not des Bartimäus, für unsere Not, öffnet. So wie Bartimäus geheilt wurde, also der Frieden Gottes ihm geschenkt wurde, so sollen auch wir in der Liturgie geheilt werden. Wir sollen mit Jesus kurz stehen bleiben und aus dem Gefüge austreten, um Erbarmen zu finden.

In dem Standbild ereignet sich die ganze Dramatik der Szene. Auf unseren Ruf um Erbarmen folgt der Ruf Jesu. Nun sollen wir hinzutreten zu ihm. Wir sollen zu seinem Vorübergang hinzutreten, zu dem Auszug ins Gelobte Land, in seinen Frieden. Nun soll Bartimäus Mut haben, aufstehen und zu Jesus laufen. Das sind die drei Dinge, die uns immer fehlen: Mut, Aufstehen, auf Jesus Zulaufen.

Die Heilung des Bartimäus braucht diese drei Dinge. Ohne Mut gibt es keine Liturgie. Ein Gottesdienst ohne Bartimäus bleibt ohne Heilung. Nur wer sich selbst überwindet, seinen eigenen, angestammten Platz verlässt, um zu Jesus zu gelangen, der findet Heilung und Frieden. Warum bleiben so viele Gottesdienste ohne Durchschlagskraft, ohne Prägekraft für das Leben? Warum geht man genauso heraus, wie man hineingekommen ist? Weil wir keinen Mut haben! Weil wir keinen Mut haben, bei Jesus um Erbarmen zu flehen! Weil wir vielleicht noch ein erstes Mal leise vor uns unsere Sorgen hinbrabbeln, aber wir nicht den Mut aufbringen, laut zu Jesus zu schreien.

Der Schrei ist ein Feuerstarter. Wir müssen nicht mit lauter Stimme schreien, sondern mit einem lauten, glühenden Herzen. Der Herzensschrei ist viel lauter, als eine Kehle jemals rufen könnte. Indem unser Herz Mut fasst, wandelt es sich von einem leisen, kalten Herzen zu einem lauten, glühendem Herzen. Das will Jesus von uns: ein brennendes Herz. Nur ein brennendes Herz hat die Kraft, aufzustehen und auf Jesus zuzulaufen. – Doch leider haben wir meist ein Herz, was die Hosen gestrichen voll hat, auf Jesus zuzulaufen. Das nennen wir Angst und Mutlosigkeit. Bartimäus ist unerschrocken. Er hat die Angst überwunden. Er hat den Kampf gewonnen. Es ist der Kampf gegen sich und gegen die Menge. Denn diese zwei Größen sind es, die von Jesus fernhalten.

Bartimäus wirft daraufhin seinen Mantel weg. Der Mantel ist das Schutzsymbol schlechthin. Die Volksfrömmigkeit sieht dies an der Schutzmantelmadonna: Maria, die ihren Mantel ausbreiten soll, damit ihre Kinder darunter Schirm und Schild finden. Wenn Bartimäus seinen Mantel wegwirft, dann wirft er seine Sicherheit davon. Es war aus nüchterner Sicht nicht gerade viel. Doch für ihn war es eine Menge. Bartimäus präzisiert somit den Mut. Er ist durch seinen Mantel geschützt. Zwischen seinem Herzen und Jesus hängt dieser Schutzschild. Er muss den Mantel seines Herzens fallen lassen, um geheilt zu werden.

Es gibt viele menschliche Nöte. Blindheit ist eine davon. Jeder Mensch hat seine Nöte. Und er will sie vor Gott tragen. Doch solange der eigene Herzensmantel sie bekleidet, solange kann Gott auch nicht heilen. Alle Wünsche des Herzens sind solange noch vom Typ «Wasch mich, aber mach mich nicht nass!». Wer wie Bartimäus gesunden will, der muss seine Barrieren gegen Gott abbauen. Er muss sich ins Rufen einüben. Er muss den Mut lernen und aufstehen und laufen.

Am Ende ist Bartimäus kein Blinder mehr. Aber seine Bettelei bleibt bestehen. Er ist ein Bettler Gottes geworden. Er ist arm, aber reich in Christus. Was er braucht, bekommt er von Jesus. Ihm fehlt es an nichts. – Die moderne Exegese fälscht das um. Sie meint, dass Bartimäus auch von der Bettelei geheilt worden wäre. Doch Betteln ist keine Krankheit. Bedürftig sein ist keine Schande. Es ist ein Gebot der Wahrheit, dass wir alle vor Gott Bettler sind. Vielleicht mag seine Bettelei vor den Augen Menschen geheilt worden sein. Vielleicht saß Bartimäus nicht mehr am Rande von Jericho. Vor Jesus aber blieb er immer ein Bettler.

Zum Evnangelium von Bettler Bartimäus



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