Religion ist en vogue. In modernen Gesellschaften werden die alten, großen Fragen nach dem Sinn in veränderter Form neu gestellt. Was ist mein Platz in dieser Welt? Kann ich meinem Leben jenseits aller Nützlichkeit auch Tiefe verleihen? Gibt es bleibende Werte? Antwortangebote werden heute mehr oder weniger individuell auf Stimmigkeit überprüft und erlebnisbezogen formatiert.
Kirche und Seelsorge sind heute mit einer Lage konfrontiert, die nicht einfach als religionslos bezeichnet werden kann. Zwar ist die heutige Gesellschaft nahezu entkirchlicht, was allerdings nur bedingt zum Jammer über die „Säkularisierung der Moderne“ taugt. Eine früher sich eher sozial und politisch definierende Religiosität tritt heute hinter eine deutlich biografiesensiblere Spiritualität zurück. Das Interesse an religiösen Inhalten bemisst sich weitgehend danach, ob und inwieweit sie Prozesse der Selbstthematisierung und Selbstvergewisserung in Gang setzen. Nicht Orthodoxie und Gemeindebindung sind gefragt, sondern spirituelle Selbstmedikation durch sensible Performer. Wenn das Schlagwort von der Säkularisierung überhaupt zeitdiagnostisch etwas über Religion und Glauben auszusagen vermag, dann noch am ehesten in der Habermas’schen Version „postsäkularer“ Verhältnisse, zu deren Signatur ein Religionsinteresse jenseits moralischer und dogmatischer Vorgaben gehört. Der anlehnungsbedürftige Einzelgänger will sich im Glauben frei bewegen und vor allem sich selbst spüren; er will spüren, dass er glaubt und was er glaubt.
„Was Gott ist, bestimme ich.“
Die Inszenierung des Außergewöhnlichen, des Spektakulären und Einmaligen wird zum Katalysator für die Erfahrung des „Ganz-Anderen“. Der aus der Zeitschrift
<emphasize>„Psychologie heute“</emphasize>
vom Juli 1995 stammende, geradezu programmatische Titel „Was Gott ist, bestimme ich“ bringt den Umbruch vom ehemals Kirchlich-Konfessionellen zur subjekt- und erlebniszentrierten Profilbildung in Sachen Religion auf den Punkt. Die Nachfrage richtet sich auf eine „ästhetische Performance, wie sie etwa in Riten und Ritualen praktiziert wird. Hier scheint am ehesten atmosphärisch erlebbar zu sein, was Religion leisten kann: Medium zu sein für die sinnliche Repräsentanz des den Sinnen Entzogenen“ (Hans-Joachim Höhn).
Man greift also zu kurz, wenn man mit der Säkularisierungsthese die Krise der Institution Kirche erklären will. Nicht das Interesse an Religion an sich hat abgenommen, sondern vor allem das Interesse an kirchlich vermittelter Religion. Das Evangelium hat kaum mehr etwas beizutragen im Alltag. Und die Institution macht weiter, als ob der „dramatische Bruch zwischen Evangelium und Kultur", den schon das Apostolische Schreiben "Evangelii nuntiandi" (1975) beklagt, nie stattgefunden hätte.
Pastorale Fertigrede
Die Gefahr ist, dass man damit nicht nur den Menschen nicht gerecht wird, sondern auch der eigenen Sache untreu. Statt am Evangelium Jesu das entscheidend Christliche zu veranschaulichen, nämlich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, geht die „pastorale Fertigrede“, so Paul Konrad Kurz, kirchlicher Verlautbarungen über die Realität der meisten Milieus hinweg. Obwohl Seelsorger spüren, dass sie mit ihrer Sprache das Ziel nicht treffen, weil gerade die Sprache sie von der Wirklichkeit entfernt, gehen sie doch „leichtmäulig mit dem Namen Gottes um, als hätten sie gerade mit ihm gefrühstückt“ (Fulbert Steffensky). Man tut vertraut, obwohl Gott in der eigenen Sprache gar nicht erfahrbar wird. Der Wirklichkeitsverlust der Sprache, der durch wortreiche Sprachlosigkeit kaschiert wird, führt so zur Banalisierung dessen, von dem man spricht, zur pastoralen Banalisierung Gottes.
Religiöse Sprachformen sind heute plural geworden. Auch außerhalb der Kirche finden sich authentische Ausdrucksweisen evangeliumsgemäßer Praxis. Daraus ergibt sich die Frage, wie diese vielen Sprachen überhaupt noch harmonisiert werden können, etwa um einen Gottesdienst zu feiern oder sich eines gemeinsamen Glaubens zu vergewissern. Auftrag und Anliegen der Kirche muss es sein, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten, sodass sie in einer der jeweiligen Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben kann“ (Gaudium et spes, 4).
Gerade der zweite Teil des Artikels 4 dieses wegweisenden vatikanischen Dokuments wird selten vollständig zitiert, obwohl sich gerade aus ihm ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Kommunikation des Evangeliums ergibt, nämlich resonanzfähig zu sein für die Suchbewegungen der jeweils neuen Generation. Es gilt also mit zweierlei Maß zu messen: Maß zu nehmen am Evangelium und an den Erfordernissen der Gegenwart.
Ludger Verst
Zum Autor:
Ludger Verst ist Inhaber von INTERFAITH – Labor für soziale Kommunikation – in Dreieich. Nach 25 Jahren in der Medienarbeit der katholischen Kirche ist Verst als Berater, seit 2016 auch als Schul- und Krisenseelsorger im Bistum Mainz tätig.
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