(explizit.net) In Westeuropa leben die Menschen in dem Bewusstsein, dass die Freiheit des Glaubensbekenntnisses praktisch gewährleistet ist und nur einige Fundamentalisten diese infrage stellen. Die Taschen sind jedoch andere. In einem gemeinsamen Bericht beider Kirchen wurden Daten zur weltweiten Verfolgung von Christen vorgestellt. Mit einem aufrüttelnden Weckruf setzt das Dokument ein – gegen alle Vermutungen, das Recht auf Glaubensfreiheit sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer selbstverständlicher geworden. Das Gegenteil ist der Fall. Es bedarf einer intensiven Neubesinnung auf die gesellschaftliche Bedeutung der Religionsfreiheit, die gerade für die Demokratien unentbehrlich sind. Dabei geht es nicht nur darum,Verfolgte zu schützen,sondern alle Bürger,ob Kirchenmitglieder oder nicht,auf die Bedeutung der Glaubensfreiheit hinzuweisen.
Religionsfreiheit auf dem Rückzug
In dem Dokumentder beiden Kirchenheißt es:„Studien renommierterForschungszentrenweisen seit 2007 eineneindeutigen Trend nach, wonach Verletzungen desRechts auf Religions- undWeltanschauungsfreiheit beständigzugenommen haben. Solche Verletzungen undBedrohungen des Freiheitsrechts sind entweder Ergebnisstaatlichen Handelns oder sozialer Anfeindungen,die von staatlichen Organen nicht unterbunden oder garbefördert worden sind. Rund drei Viertel der Weltbevölkerunglebt in insgesamt 184 Ländern, in denen die freieReligionsausübung gefährdet ist. Dies betrifft Angehörigealler Religionen, wenngleich Christen und Muslimenicht zuletzt aufgrund ihrer Anzahl am häufigsten betroffensind. Christen und Muslime umfassen rund dieHälfte der Weltbevölkerung.“
Die große Mehrheit der Menschen, nämlich runddrei Viertel der Weltbevölkerung lebt injeneninsgesamt 184 Ländern, in denen die freie Religionsausübung gefährdet ist. Noch nie wurdenvor allemChristen so stark verfolgt wie heute.Nicht ohne inneren Zusammenhang mit diesem Faktum hat derMenschenhandel der Gegenwart– undauchhierzulande,–ein Ausmaßangenommen hat, dasdenUmfang dergesamtenantiken Sklavereiin den Schatten stellt.Kinder kann man heutzutage im Internet kaufen, der Organhandel blüht, Menschen werden als Ware zum Versand angeboten.
Woher der neue Feindschaft gegen Anders-Denkende und -Gläubige
Die Politik erklärt zwar in Sonntagsreden die Freiheit des Menschen zu ihrem Ziel, jedoch verstellenIdeologienimmer wiederden Blick auf den Menschen, der inSonntagsreden gerne zum Mittelpunkt der Politik erklärt wird. Gerät der Mensch, wie in der Politik gar nicht anders vorstellbar,zwischen die Mühlsteineder Macht,geltendurchwegandere Handlungsziele alsjenes, ihnin seiner je eigenen Gestaltbedingungsloszu achten und zu schützen.Davon sind auch die Religionen betroffen:
Religionen werden von der Politik instrumentalisiert
Es sindstetspolitische Perspektiven,also Machtansprüche,die eine solche Blickverengung bewirken.Dabei wirdjedochnicht selten auchden Religionen der Vorwurf gemacht, sie missachteten um ihres Einflusses oder ihres Wahrheitsanspruches willen den Menschen. Das aber istzumindestheute seltender Fall. Der Mensch kommtdannunter die Räder, wenn Religion von der Politik in den Schwitzkasten genommen wird. Nicht das Christentum und nicht der Islamverantworten Massaker undMartyrium. DerenPolitisierung hatte und hatdiese Folge, bis heute. Politik bemächtigt sich der Religion um ihrer eigenen Rechtfertigung willen. Die christliche Religion hat eineSendungzur Missionierung,jede demokratischePolitik zielt auf ZwangdurchMajorisierung.Um nicht falsch verstanden zu werden: Es isteben dasdie Aufgabe der Politik, dem, was erlaubt ist, Grenzenzu setzen, auch um den Preis der Freiheitsberaubung.Dazubedient sie sich des einzig ihr zur Verfügung stehenden Mittels: derblankenGewalt.Dieser Gewaltweist allein die Anerkennung der Glaubensfreiheitihre Grenze.
Warum staatliche Macht am Glauben ihre Grenze findet
Die Waffen der Gewalt haben zu schweigen, wo der Mensch sich über dieBeziehung zu seinem Glauben in einVerhältnis zu sich selbst setzt, weil auf diesem Innenverhältnis die Konstitution aller Gesellschaftlichkeit aufbaut.Die aber stelltsich selbst infrage, wenn sie ihreneigenenKonstitutionsakt – das Verhältnis,zu dem ein Mensch zu sich selbst in Beziehung tritt – nicht schützt.
Das vielleicht früheste schriftliche Zeugnis dieses Zusammenhangs findet sich in derTora,ganz am Anfang,unmittelbar im Anschluss an den Schöpfungsbericht, und zwar im Rahmen der Erzählungüber den ersten Mordder Menschheitsgeschichte, als der Herr zuKainsprach: „Wo ist dein Bruder Abel?“(Gen 4, 9) Diese Fragezielt darauf ab, sich über die Beziehung zu seinem Mitmenschen in ein Verhältnis zu sich selbst zu setzen. Gottselbst drängt auf die Klärung dieses Selbstverhältnisses undfragt nachebendiesem Innenverhältnisdes Menschen, indem er andenBruderund dessen Verbleiberinnert. Zuvor hatteKainsich geweigert, diese Verhältnisbestimmung vorzunehmen, obwohl er von Gottschon langevorherdazu aufgefordertwar(Gen 4, 6).KainsVerzicht, dieser Aufforderung nachzukommen,führt ihn auf den Weg der Gewalt. Abels Ermordung hätte verhindert werden können, wenn sein Mörderzuvor die Aufforderung, sich zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen, ernst genommen hätte. AberKain„tat nicht recht“ (Gen 4, 7), und die Gewalt nahm ihren Lauf, bis hin zu der Entscheidung, den Bruder umzubringen.
Gott fragt, und der Mensch weicht der Frage aus. Da kann der Aufbau eines Innenverhältnisses nicht gelingen.In der Beziehung zusich selbstjedochgründetalle Gesellschaftlichkeit, die ja dochzu ihrer Rechtfertigungnur das Verständnis des Menschen von sich selbstspiegelt.Und Glaubeumfasstin seiner ursprünglichen Bedeutungebendieses Recht, sich zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen, um so den Ausgangspunkt zu bestimmen, von dem alles im Leben seinen Anfang nimmt. In diesem Recht – die Genesis spricht davon, recht zu tun –und seiner uneingeschränkten Anerkennungfindet sich die letzte Schranke gegenallen Zwang. Die Begründung der Glaubensfreiheit ist zugleich die Begründung des Gewaltverzichts.
Religion, die sich der Gewalt und der Vergewaltigungbedient– sei es aus eigenem Antrieb oder auf dem Weg der Duldung,verrätauch aus diesem Grundihren Auftrag –ausnahmslosimmer.Sie erliegtin diesem Falldem Paradoxon der Politik, durch Zwang denMenschen schützen zu wollen; einmal im Besitz der Gewalt, geraten der Politik bald ganz andere Ziele in den Blick – und die Macht wird zum Mittel ihrer Selbstbehauptung. Dieser Paradoxie kann Politik aus vielerlei Gründen nicht entkommen.
Religion muss Religionsfreiheitwahren, indem sieAbstand vonder Politik hält
Nun wird man nichtbestreitenkönnen, dass esauchreligiöse Führergab undgibt, die mit der Gewalt liebäugeln, in der Erwartung, ihrenEinfluss und ihre Macht zu steigern,ja,manchmal sogar die Politik bitten, mit Gewalt bei der Durchsetzung eigener Ziele zu helfen.Dochdiese Fälle bestätigennurdas eben Gesagte, weil sie die Religion zur Fratze werden lassen;Einfluss,Machtund Gewaltsind Zwecke und Maßstäbe der Politik, nicht der Religion.Ihre Freiheit rechtfertigt sich gerade als Raum jenseits aller Gewalt. Wäre es anders, würde Glaubensfreiheit den Religionen vom Staat nach Maßgabe ihrer Willfährigkeit gewährt.
In den nächsten Jahren wirdviel davon abhängen, ob es den Glaubensgemeinschaften gelingt, sich vor politischer Inanspruchnahme zu schützen, und dort, wo sie zur Gewohnheitgeworden ist,davonzu befreien.Wo immer Religion zum Kombattanten der Politik wird, verliert sie sich und ihren Auftrag.Umgekehrt aber gilt genauso: Die Aufgabe von Glaubensgemeinschaften besteht nicht darin, die Politik aufzufordern, nach ihrem Gutdünken die Gesellschaft zu ordnen.Auch hier zeigt sichein Gesichtspunkt vonEntweltlichung. –in derwechselseitigenAbstandnahmepolitischer und religiöserZiele. Ganz nebenbei würde die Politik auf diese Weise gezwungen, wieder selbst über die Gründe ihrer Rechtfertigung nachzudenken – eine Aufgabe, die sie hierzulande ja allermeist unwirsch vom Tisch wischt.
Esgeht in diesem Zusammenhangeben nicht nur um die arabische und die islamische Kultur, um Muslim-Brüder undDjihad-Kämpfer, auch wenn sich dieseEinseitigkeitinderBetrachtungbei uns eingebürgerthat.Weltweit wird Religion lernen müssen,von der Politik Abstand zu suchen, auf Einfluss, Gestaltungsmacht und Regelbefugnissezu verzichten. Jeder Schritt in diese Richtung lässt wieder aufleuchten, was im Mittelpunkt von Religion steht, ihre Wahrheit nämlich. Und das istfür Christendie Botschaft von derFleisch gewordenenLiebe Gottes zum Menschen – eine Botschaft, die der Politik, weil sie mittelsGewalt ihre Aufgabe wahrnimmt, ganz fremd bleiben muss.
Wirstehen weltweitam Beginn eines neuen Selbstverständnisses von Religion und derenRollein der Gesellschaft. Nicht einRückzugist angesagt, wie gernegegen diese hier geltend gemachte Meinungeingewandt wird, sonderndie neuerliche, befreiendeEntdeckung ihres Auftrages.Dafür aber muss sich Religion aus der Umarmung durch die Politik lösen.Als Papst Franziskus die FlüchtlingsinselLampedusabesuchte, hat er auf die angebotene Begleitung des Innenministers der Republik verzichtet – und sich so von gebotenen und falschen Rücksichtnahmen auf einen Schlag befreit.
<emphasize>Christoph Böhr</emphasize>
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