Islamisierung nach dem Ende des Kommunismus

Sowohl die Orthodoxie wie der Islam erlebten in den Ländern, die aus der Sowjetunion hervorgingen, eine religiöse Renaissance. Der Islam radikalisierte sich in der jüngeren Generation. Allerdings kam es nicht zu einem Übergewicht der Muslime, auch nicht in der Armee, wie um die Jahrtausendwende prognostiziert wurde.

Sowohl die Orthodoxie wie der Islam erlebten in den Ländern, die aus der Sowjetunion hervorgingen, eine religiöse Renaissance. Der Islam radikalisierte sich in der jüngeren Generation. Allerdings kam es nicht zu einem Übergewicht der Muslime, auch nicht in der Armee, wie um die Jahrtausendwende prognostiziert wurde.

Im heutigen Russland ist der Islam in zwei Gebieten traditionell präsent, im Wolgaraum und im Kaukasus. In den letzten Jahren sind immer mehr Muslime aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Russland als Gastarbeiter gekommen, so aus Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan und Aserbaidschan.

Islamismus in der Tatarenrepublik

Im Wolgaraum, in den autonomen Republiken Tatarstan und Baschkirien leben Russen und Vertreter der Turkvölker, also Muslime und Orthodoxe Christen schon seit mehr als fünf Jahrhunderte zusammen. Man könnte sogar sagen, dass hier eine Symbiose zwischen Russen und Tataren gelungen ist. Es gibt viele gemischte Ehen. Bei den Tataren handelt es sich meist um einen kulturellen Islam. Als Tartar ist man Muslim, so wie Russen orthodoxe Christen sind. Viele Tataren leben außerhalb ihres Herkunftsgebietes. Dort sind sie noch mehr in die russische Gesellschaft integriert. Der heutige Präsident von Tatarstan, Schajmiev, ist Befürworter eines liberalen Islams.

Inzwischen breitet sich in diesen Gebieten ein radikaler Islam aus. Mehr noch, einige Experten vergleichen den Prozess der Islamisierung im heutigen Wolgagebiet mit der Islamisierung, die in den neunziger Jahren im Kaukasus um sich griff. Manche behaupten sogar, dass im Wolgaraum solche Prozesse noch schneller ablaufen. Der radikale Islam breitet sich vor allem unter den Jugendlichen aus. Auch Vertreter der Staatsgewalt und Geschäftsleute werden zu Anhängern des Islamismus. Am Ramadan des letzten Jahres sind einige Jugendliche mit den Flaggen von ISIS durch die Hauptstadt Kazan gefahren. Radikale Gruppierungen scheuen vor dem Gebrauch von Waffen zurück. Am 19. Juli 2012 wurde von Islamisten ein Anschlag auf den Mufti von Tatarstan verübt. Die Begründung: Zuerst müssen die “falschen Muslime” bekämpft werden. Zwar hat der Mufti das Attentat überlebt, aber sein Vertreter wurde getötet.

Es war für die russische Gesellschaft eine schockierende Meldung, dass in Tatarstan an der Wolga eine “Antiterroroperation” läuft, nur wenige hundert Kilometren von Moskau entfernt. Islamistische Gruppierungen verbreiten sich inzwischen nicht nur in den traditionellen muslimischen Gebieten an der Wolga und im Kaukasus, sondern auch in den Großstädten Moskau und St. Petersburg, wo auch viele Migranten aus den muslimischen Republiken Zentralasiens leben. Islamistische Organisationen existieren mittlerweile in allen Gebieten der Russischen Föderation.

Russen konvertieren zum Islam

In letzter Zeit konvertieren viele ethnische Russen nicht nur zum Islam, sondern werden sofort zu Anhängern radikaler islamischer Ideologie. Es gibt keine genauen Angaben, wie viele Russen zum Islam konvertiert sind. Einige vermuten, dass es nur wenige Tausend sind. Jedoch gibt es in Astrachan, eine Stadt am Kaspischen Meer und ehemaliger Hauptstadt des Astrachan Khanatsgebiet 7.000 russischstämmige Anhänger des Salafismus. Von den 3,5 Millionen in Kasachstan lebenden Russen sind 54.000 Muslime. Es gibt viele Gründe warum sie sich zum Islam bekehren. Besonders interessant ist, dass die Anhänger von rechtsradikalen wie auch linksradikalen Gruppierungen Muslime werden, da sie in dieser Religion eine ideologische Basis für Ihren Kampf gegen den Staat finden. Es gibt Vertrete des sog. “arischen Islams” und des “marxistischen Islams“. Für die Anhänger des “Arischen Islams” ist es ein Weg zur Wiederbelebung der Russischen Nation oder gar der ganzen „Weißen Rasse“. Für die Anhänger des linkradikalen Islam ist es ein Weg zur Befreiung aller Unterdrückten. Gleichzeitig schließen sich Kriminelle in von Muslimen organisierten Gruppen zusammen. Das geschieht sehr oft in den Gefängnissen. Man spricht sogar von der Islamisierung des Zuchthaussystems. Nur wenige tausend russische Muslime haben mehr Terroristen als die 5 Millionen Tataren hervorgebracht. Nach Andrei Chupigi, Professor für Orientalistik, sind nicht die Migranten oder die traditionellen Muslime, sondern zum Islam konvertierte Russen das größere Problem.

Islam im Kaukasus – Kampf gegen Russland

Im Kaukasus ist der Islam längst zu einer Ideologie des Kampfes gegen Russland geworden. Wie überall handelt es sich um eine Ideologie der jungen Leute. Ältere versuchen, die Radikalisierung einzudämmen, aber nicht immer erfolgreich. Dagestan ist zu einem Schauplatz ununterbrochener “Antiterroroperationen” geworden, die sich manchmal kaum von einem Krieg unterscheiden. Dort beobachten die Menschen die Gebote des Islam nur bedingt. Einmal bin ich selbst mit einem Dagestaner im Zug von der Hauptstadt Machtschkala nach Moskau gefahren. Nach kurzer Zeit hat er eine Flasche guten dagestanischen Kognaks herausgeholt und mir einen Drink angeboten.

Arbeitsmigranten aus Zentralasien

Eine große Gruppe Muslimen in Russland bilden Migranten aus Zentralasien. Welche Rolle der Islam bei ihnen speilt, hängt von ihrem Herkunftsland ab. Während nur wenige Kirgisen den Islam praktizieren, sind Usbeken und besonders Tadschiken strenge Muslime. Viele von ihnen fühlen sich fremd in Russland. Auch wenn ihr Hauptziel darin besteht, etwas Geld zu verdienen, wollen sie sobald als möglich zurückkehren. Sie sind für islamistische Propaganda sehr anfällig. Mehr noch, sie sind sehr oft Träger dieser Propaganda.

Die in Palästina in sechziger Jahren gegründete radikale islamische Partei “Hizbu-t-Tahrir”, die „Partei der Befreiung”, hat sich, nachdem sie von Jordanien vertrieben worden war, nach dem Zerfall von Sowjetunion im Ferganatal in Usbekistan wie auch im Süden von Kirgisistan etabliert. Von dort hat sie ihre Tätigkeit auf ganzes Russland ausgedehnt. Die Partei ist zwar in Russland verboten, hat aber immer mehr Anhänger weit über den Kreis der Migranten aus dem Ferganatal. Russische Bürger schließen sich dieser Partei an. Als Hauptursache der Verbreitung des radikalen Islams bei den ethnischen Russen nennt man die Entwurzelung von der eigenen Tradition und das Fehlen einer attraktiven ideologischen Alternative.

Zwar bleibt der radikale Islam, mit Ausnahme einiger Regionen wie Dagestan, eine Randerscheinung. Seine Anziehungskraft, besonders unter den Jugendlichen, die nach dem Sinn des Leben suchen, sowie bei denen, die sich sozial, kulturell oder politisch ausgegrenzt oder benachteiligt fühlen, ist nicht zu unterschätzen.

Starke Zunahme des Islam ist ausgeblieben

Vor 10-15 Jahren gab es Voraussagen, die Zahl der Muslime würde gegenüber den Mitgliedern der orthodoxen Kirche stark zunehmen. Diese Prognose ist nicht eingetreten. Zwar steigt die Zahl der Muslime in Russland, aber nur langsam. Im Allgemeinen liegen die Geburtsraten bei den Muslimen um 3% höher als bei den Russen. In der Armee ist nach offiziellen Angaben die Zahl der Muslime gesunken. Wenn einige Analysten noch vor 10 Jahren eine Mehrheit der Muslime in der Armee prognostizierten, betrug der Anteil der Muslime nach offiziellen Angaben der Armee 2015 nur 9% Muslime im Vergleich zu 88% Orthodoxen.

Die Mehrheit der Muslime will ein friedliches Zusammenleben

Trotz der jahrhundertelangen Erfahrung des Zusammenlebens mit Muslimen stehen der Staat sowie die Russische Gesellschaft vor der Herausforderung, eine neue Weise des Zusammenlebens zu finden. Man kann nicht mehr pauschal alle Muslime wie im Mittelalter als Feinde betrachten. Man kann sie auch nicht mehr wie im Zarenreich als Bürger zweiter Klasse behandeln. Man will auch nicht mehr wie in der Sowjetzeit alle Religionen ausrotten. Jetzt versuchen die russische Gesellschaft und der Staat zu den Wurzeln zurückzufinden. Diese sieht man in der Orthodoxie. Jedoch stößt der Anspruch der Orthodoxen, eine besondere Rolle in der Gesellschaft einzunehmen, auf Ablehnung der Muslime, die in ihren Gebieten auf eine längere Geschichte zurückblicken als die Orthodoxen selbst. Wie auch in anderen Ländern mit mehreren Religionsgemeinschaften ist ein modus vivendi zu finden, der erlaubt, friedlich und sogar in Freundschaft miteinander zu leben. Nach meiner Erfahrung, will, trotz der Verbreitung radikaler Ideen, die überwiegende Mehrheit der in Russland und in den ehemaligen Sowjetrepubliken lebenden Muslimen genau das.

Vladimir Pashkov

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