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„I have a dream“ – Wann wird der Traum wahr?

Am 4. April 1968 wurde der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet. Aber sein Traum lebt weiter. Und doch werden bis heute Schwarze und Menschen „anderer“ Hautfarbe von Weißen getötet. Dr. Kings Vision einer Gesellschaft von gleichen Menschen war gefährlich und brachte ihm letztlich den Tod. Doch seine Ideen sterben nicht. Aber wann wird sein Traum wahr?

Am 16. März 2021 wurden acht Menschen in Atlanta erschossen, davon sechs mit asiatischen Wurzeln. Letztes Jahr im Mai erschütterte die Ermordung von Georg Floyd Menschen in der ganzen Welt. Vielleicht erinnern sich manche noch vage an den Tod von Michael Brown 2014 und Trayvon Martin 2012. Diese Anschläge lösten Unruhen und Entsetzen in den USA und weltweit aus. Warum sind solche rassistischen Gewalttaten gegenüber Menschen anderer Hautfarbe im 21. Jahrhundert noch immer möglich? Sie wurden alle durch Weiße ermordet, wie Martin Luther King (MLK) am 4. April 1968 in Memphis. Von heute aus gesehen scheint sein Traum auf unbestimmte Zeit aufgeschoben, gar unerreichbar zu sein. Oder etwa doch nicht?

Dr. Kings Mörder war ein geflohener Häftling, der eine Karriere als Porno-Regisseur plante. Wer MLK tötete, ist also beantwortet. Aber „was“ tötete ihn? Die Antwort: Angst. Das wird deutlicher, wenn man in seine bekannte Rede „I have a dream“ von 1963 schaut:

„Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.“

Sein Traum, dass eine Gesellschaft ohne Rassismus möglich ist, machte Martin Luther King gefährlich. Er träumte davon, dass seine Kinder in Zukunft nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden. Mit seinem Traum, dass alle Menschen am Tisch der Brüderlichkeit sitzen werden, unterschrieb er gewissermaßen sein Todesurteil mit. Offenbar provoziert die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit zu Gewalttaten, motiviert Menschen zu Hass und Mord. King entwarf die Idee einer Gesellschaft von Gleichen, in der sogar Menschen schwarzer Hautfarbe denen mit weißer Hautfarbe ebenbürtig und gleichberechtigt sind. Für viele eine unerhörte Vision, tatsächlich eine bloß vermeintliche Selbstverständlichkeit, die bis heute nicht Wirklichkeit geworden ist. Eine Vision die nicht nur Hoffnungen weckte, sondern auch Ängste. Denn sie zeichnet ein Bild, in dem Teilhabe-Chancen und Rechte gleich verteilt sind, und nicht haltmachen an Hautfarbe, religiösen oder kulturellen Hintergründen. Chancengleichheit und gleiche Rechte für die einen, heißt auch Teilen und Abgeben bisheriger Privilegien für die anderen. Das macht Angst.

Brüderlichkeit heißt verzichten

Martin Luther King denkt seine prophetische Vision der Gesellschaft nicht romantisch. Es geht ihm um eine gleiche und gerechte Aufteilung von Macht und Einfluss, einen gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu Politik, Wirtschaft und Bildung. Doch dazu müssen einige Menschen verzichten, denn damit Gerechtigkeit und Freiheit erlangt werden können, müssen die Machthabenden einen Teil ihres Einflusses abgeben. Verzicht muss errungen werden. King wusste selbst, „dass Freiheit nie vom Unterdrücker freiwillig gewährt wird: Sie muss vielmehr von ihm gefordert werden.“

Einerseits ermutigte sein Traum die afroamerikanische Community und People of Color (PoC) in den USA zu Selbstbewusstsein. Gleichzeitig stellte er die bestehenden Verhältnisse in Frage, das bedrohte die Privilegien der weißen Mehrheitsgesellschaft.

In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung steht: „Alle Menschen sind gleich geschaffen“. King geht es um die Einlösung dieses Versprechens. Sein Traum sprengt deshalb das Gebäude einer rassistischen Gesellschaft: Wer den Tisch der Brüderlichkeit beschwört, macht sich diejenigen zu Feinden, die von der „Unbrüderlichkeit“ profitieren, damals wie heute. Dazu zählen Parteien in den Parlamenten, die versuchen, durch das Sähen von Angst vor Überfremdung ihren politischen Einfluss zu sichern. Es sind aber auch Unternehmen, die zwar das Geld jedes Konsumenten akzeptieren, aber nicht die beruflichen Aufstiegschancen jdes Menschen ermöglichen.

Viele in der weißen Mehrheitsgesellschaft waren und sind empört über die Forderung, sie sollten ihre bestehenden Privilegien abgeben.

Es lässt sich auch heute noch fragen: Wieso dürfen in Deutschland Menschen, die hier geboren sind oder seit 50 Jahren hier wohnen, nicht an der Bundestagswahl oder einer Landtagswahl teilnehmen – nur weil sie keinen deutschen Pass haben? Warum können in Bayern in jeder Landesbehörde Kruzifixe hängen, aber das Tragen eines Kopftuchs bei Lehrkräften kann den Schulfrieden stören?

Hass verfestigt Strukturen


Das „Recht zu leben“ dem „Anderen“ abzusprechen, liegt vor allem in der Angst vor dem „Anderen“ begründet. Die Befürchtung, dass dieser mir Schlechtes oder Böses will, meine Lebensgrundlagen gefährdet, macht ihn zu einer Bedrohung. Das Problem beginnt bereits mit der Unterscheidung zwischen „wir“ und „die“.

Die vielleicht diffuse Unsicherheit bei der Begegnung mit etwas Unbekanntem führt bereits in dieser sprachlichen Unterscheidung zur Trennung und entmenschlicht den „Anderen“. Geflüchtete werden zur „Flüchtlingswelle“, Menschen mit berechtigten Sorgen und Fragen zum Thema Migration werden teilweise pauschal zu „Nazis“. Angst wandelt sich zunehmend in ein Absprechen der Daseinsberechtigung des „Anderen“ – nach dem Motto: Wer mir meine Daseinsberechtigung abspricht, dem spreche ich auch seine ab.

Hass verfestigt Strukturen. Er macht blind dafür, dass man gemeinsame Anliegen und gemeinsame Ziele hat, die man finden kann, wenn man denn danach sucht. Hass lässt nicht sehen, dass man in untrennbarer Abhängigkeit zueinandersteht und sogar ein friedliches Zusammenleben gelingen kann, wenn man zumindest versucht miteinander zu sprechen.

Martin Luther King stand für Gewaltlosigkeit, von Beginn seines öffentlichen Lebens an. Trotz eines Bombenanschlags auf sein Haus, eines missglückten Attentatsversuchs und obwohl er 29-mal verhaftet wurde. In seinen Augen konnte nur Liebe, in Form eines gewaltlosen Vorgehens, den Hass überwinden. Zwar müssten dabei Verletzungen und Drohungen erduldet werden, doch nur die Liebe breche endgültig die Spirale des Hasses. Die Gewaltlosigkeit gibt dem, der sie ausübt, seine Würde als Mensch. Zugleich zeigt sie dem Hassenden, wie sehr er seiner eigenen nicht entspricht. Der Hass läuft durch gewaltloses Vorgehen ins Leere, welches beim Gewalttätigen im Idealfall Scham hervorruft.

Träume sterben nicht

Der Traum Kings vereint alle. Auch die „Hassenden“. Deren Angst, Privilegien zu verlieren oder Opfer von Rache zu werden, soll durch die Liebe genommen werden. Kings Traum wird dann Wirklichkeit, wenn die Angst vergeht, wenn jeder der „Anderen“ nicht nur eine „Existenzberechtigung“ zugesteht, sondern sogar sagt: Es ist gut, dass du bist. Der Traum wird dann wahr, wenn die Benachteiligte vergeben kann und nicht den Weg der Rache nimmt, indem sie den anderen und sich selbst an ihre Würde erinnert. Kings Mörder tötete den Träumer King, aber er tötete nicht seinen Traum.

Der Traum, der Hassende und Gehasste, Opfer und Täter zusammen denkt, ist schwer und gefährlich. Aber er kann wahr werden, wenn wir anfangen, uns nicht spalten zu lassen. Es geht darum, eine gemeinsame Sichtweise einzunehmen. Denn durch das Erlernen gemeinsamer Perspektiven nimmt gegenseitige Ausgrenzung ab. Ich stelle fest, dass die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des „Anderen“ auch meine sind. Wir stehen alle in gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Niemand lebt für sich allein. Das war 1968 so und ist es 2021 erst recht.

Vor seinem Tod sagte King in einem Gespräch, wer ohne Hoffnung sei, sei bereits tot. Er selbst, King, könne deshalb nicht nicht hoffen. Die Hoffnung, dass die Söhne und Töchter früherer Sklav*innen und die Söhne früherer Sklavenhalter*innen zu Brüdern und Schwestern werden, gab er bis zu seinem Tod am 4. April 1968 nicht auf.

Ein Kommentar von Sachell Karl Rapp


Kategorie: Politik

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