(explizit.net) Ein großer Schauspieler ist tot. Seine Stimme kann er bei der Bundestagswahl nicht mehr abgeben, doch sie klingt in den Ohren: Die Melancholie eines Engels. Otto Sander ist tot, er starb wohl an zu viel, zu viel Rotwein, zu viel Whisky und zu viel Nikotin. In seinem letzten Film spielte er einen krebskranken Rentner, der schon wie ein Engel über den Wolken schwebte. Er stellte etwas dar, nämlich Charakter. Stärke bewies auch Erich Loest. Er versuchte es ebenso als Engel, doch seine Flügel waren gebrochen. Was wie ein Suizid aussieht, ist oft nur die Folge einer erfahrenen tiefen Verachtung. Erich Loest litt in der DDR an schweren Repressalien, weil er die Wahrheit sagte. Ob der Stinkefinger von Peer Steinbrück Ausdruck von Wahrheitssuche und schon Charakterstärke ist, das kann man getrost den Beratern überlassen.
Beratung scheint jedenfalls die Nummer zu sein, unter der man politische Inhalte erreichen kann. Beim Anruf landet man in der Warteschleife, hat schließlich vergessen, was man sagen und fragen wollte, benötigt schließlich den Rat eines Coachs und der sagt einem dann, was man zu denken oder besser nicht zu denken hat. Eine Milliarde Euro hat die Bundesregierung ausgegeben für Beratungsleistungen und bewiesen, Kompetenz ist nicht, was Charakter verlangt, sondern mit irgendwelchem Zahlenwerk und Beraterundeutsch verklausuliert wird. So wie große Konzerne Armeen von Beratern das Geld in den Rachen schieben und nicht den Mumm haben, den eigenen Geist anzustrengen und für das eigene Handeln auch die Verantwortung zu übernehmen, so macht es auch die Politik. Marketing bestimmt den Wahlkampf und Inhalte werden so lange um- und schönfomuliert, bis sie marktgerecht aber hohl sind.
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Non scholae sed vitae discimus
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Was für die Politik gilt, das darf in den Schulen nicht fehlen. Wer später im Beruf etwas werden will, der darf sich nicht von kritischen Lehrern unterrichten lassen. Lernen nicht für die Schule, fürs Leben schon gar nicht, nur für die Wirtschaft lernen wir. Unterrichtsmaterialien werden von der Targo-Bank erstellt, Boston Consulting, McKinsey, Allianz, RWE, VW und Wirtschaftsverbände drängen in die Schulen, haben völlig neutrale und objektive Materialien dabei und die Lehrer sind geblendet von den schönen Bildchen, den optimal gestalteten Powerpointpräsentationen sowie den smarten Hilfslehrern. Bildung war einmal die Formung junger Menschen zu kritischen, charakterstarken und an Inhalten geformten Zeitgenossen. Heute gibt es Qualitätssicherung. Und Qualität ist, was der Wirtschaft nutzt.
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Charakter ist, was nicht aktuell ist
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Menschen wie Otto Sander und andere wirken auf eine merkwürdige Art wie aus der Zeit gefallen. Manche ziehen sich wie Eremiten zurück und lassen sich nicht durch aktuelle Tagesnachrichten von ihrer Meinung abbringen. Sie sind gefestigt in großen Linien, da gibt es Projekte, die Lebensprojekte sind, Leidenschaften, die nicht erkalten, weil die Kritiker bereits den Abgesang angestimmt haben. Charakter ist Gewissheit und nicht Aussitzen. Es zeigt auch keine Stärke, in einen Zickenkrieg zu ziehen oder in den Container mit David Hasselhoff, wie es jetzt Jenny Elvers-Elbertzhagen tut. Ein dickes Fell zu haben, ersetzt eben nicht den Charakter.
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Völker hört die Signale
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Wenn Parodisten, Kabarettisten und Spaßmacher die Köpfe der Zeitgeschichte gerade ziehen, dann legen sie frei, was hinter der Fassade an Substanz verbleibt. Hohlräume werden ausgeleuchtet und Versteckspiele enttarnt. Doch traurig steht der wache Zeitgenosse auf seinem Posten, die Signale sind laut und vernehmlich, nur die Antworten bleiben aus. Zu sehr wirkt die Schwerkraft von Ignoranz und Dummheit, man hält für Charakter, was Trägheit ist. Das letzte Gefecht ist der Kampf gegen die Erkenntnis, dass sich ja doch nichts ändert. Doch der Humanist erinnert sich: in vino veritas! Was lange reift, wird umso besser. Wer einen Schluck zu viel genommen, der spürt die Illusion der Wirklichkeit. Wer den Tropfen edlen Weines an seinem Gaumen atmen lässt, den kribbelt es, der spürt den Charakter dieses zum Wein verwandelten Traubensafts. Der Müßiggänger ergreift das Wort und es ist fleischgewordener Charakter geworden, der das Menschenrecht erkämpft.
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<emphasize>Thomas Holtbernd</emphasize>
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