Barcelona, Sagrada Familia, F: E.B.

Europa – Heimat der Europäer

Heimat ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Viele Völker Europas schwanken, ob sie in Europa beheimatet sind oder ob sie erst Heimat erfahren, wenn sie sich auf ihre Grenzen zurückziehen. Bernd Sterzelmaier zeigt, dass Heimat nicht in der Vergangenheit gefunden werden kann.

Wenn sich 500 Millionen Menschen darauf verständigen könnten, dass Europa ihre Heimat ist, wären viele Probleme gelöst. Es gäbe keinen Brexit, die Schweiz und Island wären Mitglieder der EU, Katalanen und Korsen, Schotten, Basken, Bretonen und Kosovoalbaner würden ihren Kampf um Autonomie einstellen. Polen, Tschechen, Schweden und die anderen würden den Euro als Zahlungsmittel nutzen, von Estland bis Portugal gäbe es regional angepasste Mindestlöhne und Steuersätze. Die Wohnungsnot wäre behoben. Menschen von anderen Kontinenten, die auf der Flucht sind, fänden zwischen dem Nordkap und Sizilien Asyl. Auf dem Balkan herrschte Frieden. Den Menschen in Thessaloniki und in Skopje wäre es gleichgültig, ob Alexander der Große Grieche oder Mazedonier war; so, wie es keine Rolle spielt, ob Karl der Große Deutscher oder Charlemagne Franzose war. Heimat ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt.

Heimat – Vaterland - Home

Obwohl Europa und die Welt nicht heil sind, bleibt die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Heimat. Mit dem Heimatbegriff provoziert die deutsche Sprache eine Diskussion, die es in dieser Form in anderen Sprachen nicht gibt. Die Briten kennen nur ihr „home“, das vorzugsweise ein „castle“ ist. Die romanischen Sprachen kennen „patri“ wie in Frankreich, das dem deutschen „Vaterland“ entspricht. Doch das ist nicht gemeint, wenn von „Heimat“ die Rede ist.
Selbst in der deutschen Sprache, die den passenden Begriff für diese Form der Geborgenheit bereitstellt, wird „Heimat“ nicht beim Wort genommen. Im Bundesinnenministerium „des Inneren, für Bau und Heimat“ könnte zusammenwachsen, was zusammengehört. Aber warum ist der Minister nicht einen Schritt weiter gegangen? Er hätte sein Haus als das „des Inneren, für Heim und Heimat“ benennen können. Dann wäre klar, dass das Menschenrecht auf Wohnen die Grundvoraussetzung ist, sich heimisch zu fühlen.

Europa, das Schutz bietet

„Batir un europe, qui protège“, so hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron die Hauptaufgabe beschrieben, die den EU-Institutionen zukommt: Ein Europa bauen, das beschützt. Was von Macrons Zuhörern als beiläufige Bemerkung verstanden wurde, gehört ins Zentrum der Debatte über die Zukunft Europas. Menschen haben sich zu allen Zeiten und an allen Orten der Welt zusammengetan, um gemeinsam die Probleme zu lösen, für deren Lösung der Einzelne zu schwach ist. Schutz boten Sippen, Stämme, Staaten. Doch selbst die Nationalstaaten, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert in Europa geformt wurden, können ihren Bürgern nicht mehr den Schutz bieten, auf den sie in den Jahrzehnten nach 1945 vertraut haben. Weder die Regierungen noch die Intellektuellen sind in der Lage, das Wort Heimat in die Sprache des 21. Jahrhunderts zu übersetzen. Weil eine solche Übersetzung bisher fehlt, haben diejenigen leichtes Spiel, die vorgeben, alles könne so bleiben, wie es war.

Vorbehalte gegen „Heimat“

Bei den Intellektuellen stand der Heimatbegriff jahrzehntelang im Giftschrank. Wäre das Wort in den Mund nahm, geriet in Verdacht, von „Blut und Boden“ zu reden. Antworten auf die Frage, was Heimat ist, gibt weder Siegfried Lenz in seinem Roman „Heimatmuseum“, noch Alexander Mitscherlich in seiner Betrachtung über die „Unwirtlichkeit unserer Städte“. Marcel Reich-Ranicki löste das Problem so einfach wie genial: Er zeigt sich dankbar dafür, sein Heimatland doch noch gefunden zu haben und überall mit sich führen zu können: die Literatur.
Den 500 Millionen Europäern hilft eine solche Sichtweise zumindest beim Verständnis, dass Heimat nicht in der Vergangenheit gesucht werden darf, sondern in der Zukunft gefunden werden muss. Beim Blick zurück wird es sentimental, dann führen die Erinnerungen in die Kindheit, die wunderbar oder schrecklich gewesen sein kann.
Kaum jemand nutzt den Heimatbegriff, um die Zukunft zu beschreiben, in der Grenzen und die Aufgaben der Nationalstaaten neu definiert werden müssen. Macron hat unter anderem bei seinen Reden vor Studenten der Sorbonne im September 2017 und vor dem Europaparlament am 17. April 2018 mit den fünf Worten den Auftrag beschrieben, der auf Europa zukommt. Er hatte weder in Paris, noch in Straßburg, auch nicht bei der Buchmesse in Frankfurt und anschließend in der Goethe-Universität den Resonanzboden, den ihm die Bundesregierung hätte schaffen müssen.

Auftrag für Europa, Macron und Havel

Er hätte allerdings einen Verbündeten, wenn sein tschechischer Amtskollege Václav Havel noch am Leben wäre. Doch das, was Havel am 24. April 1997 im Deutschen Bundestag sagte, wurde genauso überhört wie der Kernsatz aus Macrons Reden. Havel hat nicht verschwiegen, was sich die Europäer und im speziellen Fall Deutsche und Tschechen gegenseitig zugefügt haben. Doch sein Blick war in die Zukunft gerichtet.
In seiner Rede überraschte der Dichter und Politiker mit seiner Forderung, den Begriff Heimat neu zu interpretieren. Er schlug vor, Heimat nicht länger als abgeschlossene Struktur zu begreifen. Heimat solle als der jeweils eigene Teil der „Welt im Ganzen“ empfunden werden, als etwas, das „uns einen Platz in der Welt“ verschafft, statt „uns von der Welt zu trennen“. Heimat sei ein Raum, der sich öffne und Menschen verbinde.
Sieben Jahre, bevor die Tschechische Republik der EU beitreten konnte, sprach Havel von dem beispiellosen Prozess der europäischen Integration, „der nicht nur Sie und uns, sondern eigentlich alle Europäer zwingt, erneut darüber nachzudenken, was in der neuen Ära für sie Heimat darstellt oder darstellen wird.“
Er orientiert sich daran, dass die Identität durch mehrere Schichten oder Kreise gebildet wird. Alles zusammen werde allgemeinen als „unser Zuhause“ bezeichnet: Familie, Freunde, Glaubensbrüder; das Haus, die Gemeinde, der Bezirk, einschließlich der Landschaft, die ihn prägt, die Firma oder der Beruf, der Verein, die Volksgruppe, die Nation, der Staat. „Nur eine dieser Schichten – und es ist die Frage, wie wichtig sie für uns im Vergleich mit den anderen ist – nennen wir Heimat“.

Heimat wurzelt in der Natur

Havel sagte im Bundestag: „Sie werden mir bestimmt glauben, dass ich keinem Menschen empfehle, sich von seiner Heimat loszusagen. Ich glaube nur, dass die Zeit für eine Neudefinition reif geworden ist“. Die Landschaft, die wir als ein unverkennbares Merkmal unserer Heimat empfinden und lieben, „sollten wir immer deutlicher als einen unverkennbaren Bestandteil und ein unverkennbares Beispiel des gesamten Wunders der Natur wahrnehmen, ebenso unverwechselbar, wie andere Landschaften unverwechselbar sind“.
Volkssagen und Volkslieder, die nationale Kultur oder die Muttersprache sollten als individueller Bestandteil des gesamten Besitztums der Menschheit betrachtet werden, der die Sehnsucht nach einem Erfassen und Begreifen der Welt bezeugt. Den eigenen Staat sollten wir als einen der vielen Versuche der menschlichen Gemeinschaft betrachten, ein möglichst vernünftiges und gerechtes Zusammenleben der Menschen zu vermitteln.
Der bewundernswerte Prozess der europäischen Vereinigung konzentriere sich „heutzutage“ auf die institutionelle, wirtschaftliche, legislative und politische Vereinigung, sagte Havel vor 22 Jahren mit Bedauern. Dieser Prozess könne kaum erfolgreich sein, falls er nicht von einer Suche nach den vereinigenden Motiven im Bereich des Fühlens und des Denkens begleitet wird. „Früher oder später werden die Europäer auch Europa als ihre Heimat, wenn auch besonderer Art, oder als eine gemeinsame Heimat ihrer Heimaten empfinden müssen.“

Europäer müssen nicht mehr mit Vertreibung rechnen

An die Sudetendeutschen gerichtet sagte der Präsident, die Tschechische Republik könne ihnen ihr altes Zuhause nicht zurückgeben. Für ihn sei es dank der deutsch-tschechischen Aussöhnung aber möglich, die Vertriebenen nicht als Gäste, sondern als „unsere einstigen Mitbürger" willkommen zu heißen.

So schloss sich ein Kreis: In der Charta der Heimatvertriebenen vom 6. August 1950 heißt es: „Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Gefordert wird das Recht auf die Heimat, „eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit“.

Wer an die Zukunft Europas glaubt und die Heimat retten will, sollte Macron, Havel und alle Heimatvertriebenen beim Wort nehmen.

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