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Erdogan ohne Gottvertrauen?

Erdogan ist ein gläubiger Muslim, der den Islam zur geistigen Grundlage der Türkei erklärt. Er hat die Vorherrschaft der Atatürk-Nachfolger abgelöst, die auf einer strikten Trennung von Staat und Religion setzten. Als religiös orientierter Staatschef könnte er darauf vertrauen, dass Allah ihn in diesem Amt will. Er handelt aber genauso wie andere Politiker, die ihre Macht nicht infrage stellen lassen wollen.

Der türkische Sultan als Nachfolger der Kalifen

Eine Trennung von Staat und Religion ist in der Konzeption des Islam nicht möglich. Der Prophet wurde nach seiner Flucht aus Mekka politischer Führer von Medina und hat die Missionierung mit der Etablierung des Islam als Staatsreligion verbunden. Der Sultan, der im ehemaligen Konstantinopel regierte, hatte die Kalifen nicht nur als Herrscher über die muslimischen Reiche, sondern auch als religiöses Oberhaupt abgelöst. Nachdem die Türkei fast alle ihre Herrschaftsgebiete im arabischen Raum verloren hatte, musste sie auf dem Territorium des heutigen Staatsgebietes eine neue Identität finden. Kemal Atatürk suchte sie nicht im Islam. Da die aus den Trümmern des türkischen Großreiches hervorgegangene Republik von Griechenland angegriffen offen wurde, gewann das Militär einen erheblichen Einfluss. Erdogan drängte den Einfluss der Generäle zurück, musste sich aber trotzdem einem Putsch stellen. Er ging nur deshalb als Sieger aus dem Konflikt hervor, weil er Teile der Generalität mit ihm ergebenen Offizieren besetzt hatte.

Ist Erdogan der Vollstrecker eines göttlichen Willens?

Erdogan, obwohl Oberbürgermeister von Istanbul, ist nicht von den mehr westlich geprägten Bevölkerungsgruppen, sondern von den von muslimisch gebliebenen Frommen in der Mitte und im Osten des Landes nach oben getragen worden. Er beruft sich auf den Islam und könnte sich von Allah gesandt fühlen. Er gibt sich jedoch nicht als einer zu erkennen, der aus der Sicherheit einer göttlichen Sendung heraus die Geschicke des Landes ordnet. Vielmehr scheint er von der Angst getrieben zu sein, die Macht zu verlieren. Das ist nach dem Putsch verständlich. Aber gibt die Religion seiner Regierung nicht genügend Stabilität, da er sich ja auf die religiös orientierten Mitbürger stützt? Was sagt der Koran, um eine solche Situation zu meisternd?

Der Islam ist eigentlich eine Theokratie

Nach dem Koran gebührt Gott die eigentliche Herrschaft. Ein Gedanke, der dem Alten Testament nicht fremd ist. Für die Christen ist Jesus mit der Auferstehung auch zum Weltenherrscher eingesetzt. Aber als predigender Messias hatte er kein politisches Mandat beansprucht. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, antwortet er Pilatus auf die Frage, ob er ein König sei. Gehört im Christentum also auch die Macht Gott, so wird sie auf Erden stellvertretend ausgeübt. In der Bibel gibt es keine Vorgabe, durch wen das geschehen soll. Die Könige und Kaiser beriefen sich auf Gott. „Von Gottes Gnaden“ Kaiser zu sein, beanspruchte der preußische König. Jedoch ist es im Christentum genauso möglich, dass die Macht beim Volk liegt und den Herrschenden für eine Zeitlang übertragen wird. Im Islam gehört die ganze Macht Gott und er gibt diese einem irdischen Herrscher: 
«O Allah, Herr der Herrschaft, Du gibst die Herrschaft, wem Du willst, und Du nimmst die Herrschaft, wem Du willst. Du erhöhst, wen Du willst, und erniedrigst, wen Du willst. In Deiner Hand ist alles Gute. Wahrlich, Du hast Macht über alle Dinge.“ heißt es in Sure 3,26.

Gottesherrschaft im Christentum

Dass das Christentum auch eine starke politische Komponente hat, jedoch vor allem mit  verschiedenen Lehrmeinungen zurecht kommen muss, zeigt das Reformationsjubiläum. Die Kirche, auch als kulturell entscheidende Größe, war bis in die Neuzeit für die Politik unentbehrlich. Waren im Mittelalter die Bischöfe auch zu Landesherren über einen Teil ihres Bistumsgebietes geworden, wurden mit der lutherischen Reformation alle Landesfürsten Kirchenoberen. Diese Form der Staatskirche endete erst mit dem Ersten Weltkrieg. 
In der Orthodoxie wird die alte Ordnung wieder etabliert. Neben dem Zar gab es einen Patriarchen. Mehr als die lateinische Kirche gründen orthodoxe Reiche auf der Symmetrie von religiöser und staatlicher Autorität. Sie müssen sich jeweils aus ihren Strukturen legitimieren, auch wenn der Staat oft die Kontrolle über die Wahlgremien erlangte.

Politische Instabilität im Islam

Der ständige Kampf um die Macht ist im Islam enger mit der Religion verknüpft als im Christentum. Seit dem Tod des Propheten nicht um divergierende theologische Positionen, sondern um die Machtposition. Diese wurde aus der verwandtschaftlichen Nähe zum Propheten hergeleitet und entzweit bis heute Schiiten und Sunniten. Während dem Christentum von seinem Gründer die Unabhängigkeit von der politischen Macht ins Stammbuch geschrieben wurde, ist die Gottesherrschaft im Islam eine politische. Der Einfluss der politischen Machthaber auf die Religion ist weniger gebremst. Warum, so kommt dem Außenstehenden die Frage, ist aber die Macht so wenig sicher? Wenn Sie religiös so untermauert ist, dann müsste sie doch durch die Religion auch gesichert werden.
Solange der Prophet lebte, war klar, wer diese Macht ausüben sollte. Dann gilt Sure 36,36: „Und es ziemt sich nicht für einen gläubigen Mann oder eine gläubige Frau, wenn Allah und Sein Gesandter eine Sache entschieden haben, dass sie in ihrer Angelegenheit noch eine Wahl haben sollten. Und wer Allah und Seinem Gesandten nicht gehorcht, der geht wahrlich irre in offenkundigem Irrtum.“

Nach dem Tod Muhammeds sollte der Beste die muslimische Gemeinde anführen. Ihm sollen die Muslime gehorchen:
„O die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehlsgewalt unter euch haben. Und wenn ihr in etwas uneins seid, so bringt es vor Allah und den Gesandten, so ihr an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag. Das ist das Beste und am Ende auch das Empfehlenswerteste.“ Sure 4, 59.
Ein Problem entsteht, wenn der Herrscher nicht dem Islam treu bleibt. Im 9. Jahrhundert berichtet

Imam Bukhari vom Propheten: "Nach mir wird  es Herrscher (wilat) geben, und ihr werdet zwischen ihnen gute und korrupte finden.  Muslime müssen auf beide hören. Wer die Einheit der Gemeinde (der Jamaah) zerbricht, wird als außerhalb der Religion des Islam betrachtet. " 
Ein solcher Hadith (Überlieferung aus Mohammeds Zeit außerhalb des Koran.)aber ist nicht kompatibel mit dem Koran, der sagt:
„Und neigt euch nicht zu den Ungerechten, damit euch das Feuer nicht erfasse. Und ihr werdet keine Freunde haben außer Allah, noch wird euch geholfen werden.“ 
Wenn also ein Machthaber den Gesetzen des Islams folgt, müssen alle Muslime ihm folgen. Dem aber, der gegen diese Gesetze regiert, müssen sich gläubige Muslime widersetzen. Natürlich kann jeder Muslim für sich selbst entscheiden, wer ein guter oder ein schlechter Herrscher ist bzw. darin der Meinung eines Gelehrten folgen. Daher gibt es so viele Instabilitäten in den muslimischen Ländern. Muslime, vor allem die, die dem mittelalterlichen Lehrer Ubn Taymiya folgen, dessen Ideen im 20. Jahrhundert von dem Ägypter und Muslimbruder Sayd al Qutb aufgegriffen wurden, widersetzen sich dem Herrscher, den sie als illegitim betrachten. Sayd al Qutb sah eine Herrschaft nur als legitim an, wenn diese sich auf Gott gründet. Das hat Chomeni 1980 getan, indem er Saddam Hussein als religiös illegitimen Herrscher für abgesetzt erklärte. „Erhebt euch, bevor dieses korrupte Regime euch in jeder Weise zerstört, schneidet seine kriminelle Hand von eurem islamischen Land ab,“ Damit löste er den ersten Golfkrieg aus.
Die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat 1981wurde ebenso gerechtfertigt.

Erdogan hat nur bei einem Teil der Bevölkerung religiösen Rückhalt

Bei Erdogan ist von einer religiösen Opposition nichts zu hören, vielmehr erhält er sein Mandat von den religiös orientierten Türken, deren Frauen das Kopftuch tragen und aus denen sich die "Gastarbeiter" rekrutierten, die nach Westeuropa kamen. Allerdings stützt er sich nur auf den sunnitischen Teil der Bevölkerung. Das sind etwa 60% der Türken. Es gibt schiitische Gruppen, so die Alewiten, mit deren Gefolgschaft er nicht rechnen kann, ebenso wenig mit der der Kurden. Das erklärt das am Ende doch knappe Ergebnis der Volksabstimmung über die neue Verfassung der Türkei.

Das religiöse Mandat der rivalisierenden sunnitischen Gruppen

Die Gülenbewegung hat wie die AKP Erdogans religiöse Wurzeln und scheint für Erdogan im Unterschied zu den Kurden und den sich auf Atatürk berufenden Parteien der gefährlichere Gegner zu sein. Können sich die Vertreter dieser Gruppierung auf eine höhere religiöses Mandat als Erdogan berufen? Wenn die politische Macht letztlich von Gott gegeben ist, warum gibt es kein Verfahren, die Legitimität dieser Macht zu erkennen und ihr damit Stabilität zu verleihen. Offensichtlich greift hier kaum noch eine religiöse Dimension. Statt ein staatliche Struktur zu entwickeln, die auf eine friedliche Weise die Herrschenden in Schranken weist, geht im Islam die Suche nach einem idealen Herrscher weiter, der mit der Vollmacht ausgestattet ist, die muslimische Gemeinde entsprechend einem idealen Muster umzuformen.

Wofür aber dann die Berufung auf Gott. Zum Vergleich: Im Christentum wird von Beginn an das geistliche Oberhaupt durch Wahl bzw. durch Los zwischen vorher ermittelten Kandidaten und dann durch eine Weihehandlung in sein Amt eingesetzt. Als die Urgemeinde für Judas einen Ersatz suchte, wurde der Apostel Matthias durch Losentscheid ermittelt, nachdem vorher zwei geeignete Kandidaten gefunden worden waren. Das Oberhaupt der koptischen Kirche wird ebenfalls durch Los ermittelt. Ein Kind wählt so aus fünf vorher ermittelten Kandidaten aus. Der göttliche Wille wird auf die Weise erkannt. 

Eckhard Bieger S.J.  Vladimir Pachkov S.J 


Kategorie: Religion

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