Provence: Ein Morgenblick Richtung Alpen Foto: hinsehen.net E.B.

Einmal täglich den Himmel öffnen

Der Mensch ist mit Freiheit ausgestattet. Die braucht den möglichst größten Horizont, sonst bleibt sie im Klein-Klein stecken. Damit der Mensch fit für die Freiheit bleibt, braucht es Training des Geistes.

Das Training besteht darin, den Geist zu dehnen, dass ich auf das Größere ausschaue, mich von dem frei mache, was mich festhält. Freimachen kann ich mich, indem ich erst einmal in einen größeren Horizont eintauche, real oder geistig ans Meer gehe oder auf einen Berg steige. Ich kann meinen Blick über den ganzen Globus streifen lassen und noch weiter, bis zum Urknall oder den ersten Zellen, die sich im Meer gebildet haben, zurück zu meinem eigenen Ursprung. Da kann Dank aufsteigen, dass mir Menschen ins Leben geholfen haben, dass ich in mir Kräfte spüre, meine Begabungen schätzen lerne, dass ich überhaupt atme, dass Leben in mir pulsiert. 

Ich bin selbst für den Raum zuständig, den ich meiner Freiheit eröffne

Dieser Blick auf das Ganze ist hilfreicher als der Versuch, mich von einem der vielen Fesseln zu befreien, die sich täglich neu um mich legen. Das kann die ruppige Behandlung sein, wenn ich mein Anliegen vorgebracht habe. Der Termin, den ich versäumt habe, das Gespräch, das zu nichts geführt hat, meine Unpässlichkeit, das Versagen bei einer Prüfung oder einer wichtigen Tätigkeit. Meist tauchen diese kleinen Fesseln auf meinem inneren Bildschirm auf, wenn ich morgens in den Tag starten will oder abends, vor dem Einschlafen, den Tag an mir vorbeiziehen, wichtige Geschehen vor meinem inneren Auge ablaufen lasse. In diesem Abtasten des größeren Horizontes tauchen dann auch die Brennpunkte aus den Nachrichten auf, die Menschen, die von Bürgerkriegsparteien gepeinigt werden, die von einer Naturkatastrophe fliehen mussten, die sich aus der Armut befreien wollen, die aufrechten Geister, die eingekerkert worden sind, die Kranken, diejenigen, die am Leben verzweifeln. Wenn ich das alles in den möglichst größten Horizont stelle, bin ich besser für meine Freiheit disponiert.

Freiheit gibt es nur bedingt im Gewohnten

Freiheit gibt es nämlich, wenn ich nicht einfach einer vorgegebenen Bahn folgen muss. Meist fühlen wir uns von außen eingeschränkt, jedoch sind wir es noch mehr selbst, die unsere Freiheit unnötig eingrenzen. Ich bin immer wieder verführt, es so zu machen, wie ich es gewohnt bin. Damit rechne ich auch, wenn ich als Mitarbeiter oder Vorgesetzter, als Lehrer oder Prediger auf das Beharrungsvermögen der anderen stoße. Ich stecke dann zurück und bleibe bei dem, was gängig ist.
Freiheit heißt auch, die anderen frei ihren Lebensweg gehen lassen. Auch hier reagiere ich erst einmal entsprechend meinem inneren Muster. Manches lässt mein Muster zu, Vieles grenze ich auch aus. Nur wenn ich meinen Geist fit für meine Freiheit halte, kann ich auch anderen zugestehen, etwas anzupacken, was nicht gängig ist. Wenn ich mich selbst nicht in ein neues Gebiet wage, gestehe ich es anderen nur sicherlich zu.
Das gilt auch in hohem Maß für die Religion. Ob Buddha, Jesus oder Mohammed - sie sind gegen den Widerstand der bisherigen Bahnungen des religiösen Denkens neue Wege gegangen. Wie kann es sein, dass diese Gründer eingeengtes Verstehender Transzendenz gewollt haben. Gerade die hohe Achtung vor dem Wert jedes einzelnen Menschen verlangt, dem größeren Horizont den Vorzug zu geben.

Praktiken für die geistige Fitness

Es scheint ein Widerspruch, aber wie für die körperliche Fitness brauche ich auch eine tägliche Routine, um den Horizont der Freiheit immer wieder auszuspannen. Bücher eröffnen den weiteren Blick, deshalb hält Lesen fit für die Freiheit. Die Religionen haben dafür Meditationsverfahren entwickelt, um wie das Zen, den Geist zu entleeren, im Yoga dem Atem zu folgen oder die Handlungen und Worte des Religionsgründers zu betrachten. Weil ich mich mit diesen Geist-Übungen der ganzen Realität stelle, gehören die Leiden, die Bedrohungen, die Kriegshandlungen mit in das Abschreiten des größeren Horizontes. Wenn ich Teil dieses großen Ganzen bin, sind die Beeinträchtigungen, das Mobbing, die Unfälle und Katastrophen auch Teil meiner Welt. Wenn ich weiter davon ausgehe, dass Massaker, Waffengewalt, Verfolgung, Mobbing nicht Produkte des Zufalls, sondern von Menschen gemacht sind, dann betreffen sie mich sogar persönlich.  Wie alles, was wir Menschen "machen", hat auch eine religiöse Routine ihre Kehrseite. Wenn sie nur aus Gewohnheit absolviert wird, engt sie den Geist noch mehr ein, als wenn ich mich mit den vielen kleinen Ärgerlichkeiten und Malessen beschäftige. Gebetszeiten, Meditation, Kontemplation müssen nach ihren Folgen beurteilt werden. Die Bibel nennt das, "auf die Früchte schauen". Die Früchte des Geistes zählt Paulus im 5.Kapitel des Galaterbriefes auf: „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“. Weil täglich meiner Freiheit neue Fesseln angelegt werden, ich immer die Engführung meines Charakters mit mir herumtrage, brauchen ich eine tägliche Routine. Wenn ich sie durchhalte, kann ich mich immer wieder aus dem Klein-Klein herauswinden.


Kategorie: Entdecken

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