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Dolce far niente als Umwertung protestantischer Arbeitsethik

Wenn wir auf uns noch Unbekannte treffen, fragen wir meist zuerst nach ihrem Namen, aber nur wenig später nach ihrem Beruf. Es gilt: Sag mir, was Du arbeitest und ich weiß, wer Du bist. Der moderne Mensch definiert sich durch seine Arbeit. Im Folgenden ein Bericht vom 21. Philosophicum in Lech, Österreich. Die erwarteten Umwälzungen gehören in die Koalitionsverhandlungen.

Hatte René Descartes im 17. Jahrhundert noch formuliert, „Cogito ergo sum“ – Ich denke, also bin ich, haben wir die Arbeit zum Bezugspunkt unserer Existenz gemacht und sagen: „Laboro ergo sum“ – Ich arbeite, also bin ich.

Die Verschiebung des menschlichen Existenzgrundes vom Denken zur Arbeit grenzt das Faulenzen aus, das als Gegensatz zur Arbeit empfunden wird. Die vita otiosadas müßige Leben scheint kontraproduktiv – im ursprünglichen Sinn des Wortes – zu sein; es schafft vermeintlich nichts und nützt nichts. Stimmt das? Macht nur Arbeit glücklich und frei? Ist Faulheit bloß Faulheit und modifiziert sie sich nicht als Muße, Freizeit, Pause, Chillen, Herumhängen, Entspannen usw.? Sind Müßiggang oder dolce far niente des – zugegebenermaßen meist katholischen – Mittelmeeranrainers sündenbeschwerte Perversionen? Könnte ein Umdenken in unserer Zeit, der die Arbeit und die dafür qualifizierten Arbeiter ausgehen – wir verlieren in den nächsten Jahren 40 Prozent unserer Arbeitsplätze durch Digitalisierung und Robotisierung – nicht zum Ansporn werden, Arbeit neu zu definieren, Arbeitslosigkeit zu entkriminalisieren und die Betroffenen von dem Odium als Versager und Nichtstuer zu befreien? Wäre ein Grundeinkommen für Jedermann vielleicht der richtige Weg?

Arbeit wird durch den Protestantismus geadelt

Eine wirkmächtige Narrative der Moderne ist die These von Max Weber, der Geist des Kapitalismus sei aus dem Calvinismus geboren. Ob wahr oder nicht: Das protestantische Arbeitsethos, das mit dem Aufkommen eines neuen Berufsbegriffs verbunden ist, hat die allgemeine Akzeptanz der gegenüber dem Mittelalter neuen Wirtschaftsform nicht nur begünstigt, sondern deren weitere Entwicklung gefördert. Luther hob die Unterscheidung zwischen einer vita activa und vita contemplativa auf, wobei die letztere als Königsweg sowieso nur Mönchen und Nonnen offenstand und die Laien ausschloss. Neu war auch nach der Reformation, dass die Arbeit zukünftig nicht mehr als notwendiges und übles Übel zur Sicherung des Lebensunterhaltes betrachtet, sondern zu einer verordneten Berufung Gottes wurde, quasi zum „Gottesdienst im Alltag“. Arbeit wurde zu einem Mittel „der Selbstzucht und Ablenkung von bösen Lüsten“ (Ernst Troeltsch). Zwar verwarf der Ex-Mönch Martin Luther das Mönchtum und das Bettelwesen, zugleich aber demokratisierte er das monastische Ideal der Askese. Es wurde zur „Signatur des christlichen Lebens im alltäglichen Leben“ (Ulrich H.J. Körtner). Das bedeutet nicht den von Hannah Arendt beklagten „Sieg des animal laborans“ oder des homo faber, wohl aber die Entdeckung des Berufs und dieser Beruf hat etwas von Berufung. Während Luther und vor allem die Katholiken in agrarisch strukturierte Gesellschaften eingebunden waren, wurde der Calvinismus durch Handel und Handwerk sowie die geldwirtschaftlich-industrielle Produktion geprägt. Als Hochzeitsgeschenk der Vereinigung von Calvinismus und Kapitalismus gilt die Einführung der Uhrenproduktion in Genf.

Arbeit als Askese und Berufung

 und Das Wort „Arbeit“, lateinisch labor, bedeutet „Mühe, Plage Anstrengung“. Im Russischen haben Arbeit – rabota – und Sklave – rab – gemeinsame Wurzeln. Die Gebrüder Grimm meinten in ihrem Wörterbuch, der Begriff Arbeit habe ursprünglich einen lang anhaltenden Schmerz benannt, wie ihn Gebärend empfinden. Arbeit meint so eine lange, schmerzhafte Empfindung, die als Strafe Gottes zu verstehen ist.
Luther unterscheidet zwischen Beruf und Arbeit. Für ihn ist der Mensch zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Die Arbeit ist aber – nach traditioneller kirchlicher Lehre – Mühe, Last und Leiden und vor allem Strafe für den Sündenfall. Katholiken und Protestanten einigt die Auffassung, Arbeit sei lästig – dennoch aber auch nützlich. Allerdings auch nicht mehr. Die Annahme, Arbeit sei eine Ressource für Lebenssinn oder sogar ein Mittel der Selbstverwirklichung, kam erst mit dem modernen Arbeitsbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts auf, der wiederum seine Wurzeln in der Aufklärung hat. Der Beruf ist für Luther „gewissermaßen ein Wachtposten, den uns der Herr zugewiesen hat, damit wir nicht unser Leben lang umgetrieben werden“. Selbstdisziplin ist jedem Christen auferlegt, übrigens auch im Umgang mit Besitz und irdischen Gütern.
Selbst nach Calvin darf sich der Christ an Nahrungsmitteln und Kleidern nicht nur wegen ihrer Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse erfreuen. Sie sind „auch für unser Ergötzen und unsere Freude“ da. Es bleibt aber dabei: Christen haben das gegenwärtige Leben zu verachten und nach der himmlischen Unsterblichkeit zu trachten. Max Weber etikettierte dies als „innerweltliche Askese“.

Das Verständnis der Arbeit in der Moderne

Unser aktueller Arbeitsbegriff beginnt sich in der Renaissance zu entwickeln. Arbeit wird als produktive Tätigkeit gesehen. Während der Aufklärung erfährt die Arbeit eine moralische und gesellschaftliche Aufwertung: Religiosität, Arbeit und Bürgersinn werden eins. Arbeit wird nun das Versprechen von Lebenssinn und sozialer Anerkennung. Bürgertum und Arbeiterschaft akzeptieren das. Marx deutet Arbeit als Selbsterzeugung des Menschen, der aber auf revolutionäre Weise von den bestehenden Verhältnissen befreit werden muss, weil die unselbständige Lohnarbeit ihn entfremdet.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte Albrecht Ritschl den protestantischen Berufsbegriff neu: Für ihn wird die Arbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft zum „sittlichen Beruf“. Erfolgsstreben und Eigentumserwerb werden zwar nicht abgelehnt, aber der Gemeinnützigkeit unterworfen. Außerdem wird die Arbeit zur imitatio Christi. Christen leisten nun „Arbeit am Reiche Gottes“, wirken mit an der christlichen Vollkommenheit, die nach Ritschl Ziel christlichen Lebens ist. Auf diesem Hintergrund konnte der Marxismus in der verblichenen DDR in der lutherisch-neuprotestantischen Arbeitsethik einen Bündnispartner beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft sehen. Diese Variante des Christentums stimmt plötzlich mit dem Marxismus in der Forderung nach dem Recht auf Arbeit überein – und zwar nach einer Arbeit, in der sich der Mensch kreativ verwirklichen kann und nicht entfremdet ist! Andererseits besteht die Kehrseite der Melange von bürgerlichem und marxistischem Arbeitsethos darin, dass Arbeitslosigkeit mit Sinnlosigkeit des Daseins gleichgestellt wird. Arbeitsunwillige und Arbeitsunfähige wegen Krankheit oder Behinderung sind außen vor.
Arbeit als Beruf stößt in der modernen Arbeitswelt, gekennzeichnet durch hochgradig arbeitsteilige Produktionsprozesse und Dienstleistungen an seine Grenzen und scheint seine Plausibilität zu verlieren. Der Arbeitsbegriff wird immer weiter ausgeweitet. Zur Trauerarbeit kommt die Beziehungs- und Persönlichkeitsarbeit. Intellektuelle werden Geistesarbeiter, Menschen im ältesten Gewerbe der Welt zu Sexarbeitern.
In der modernen Leistungsgesellschaft ist der Atemzug des protestantischen Geistes in Form seiner Einstellung zur Arbeit kaum noch zu spüren. Trotz Professionalisierung und neuer Professionsethiken zeigen dennoch Untersuchungen zur Spiritualität in der heutigen Arbeitswelt, dass die religiöse Komponente aus dem modernen Arbeitsverständnis nicht völlig verschwunden ist. Sie wirkt auch dort noch fort, wo sich die moderne Idee des unternehmerischen Selbst – „Ich-AG“ – entwickelt hat. 

Faulheit gegen Arbeit rund um die Uhr

Müssten wir aber heute nicht eigentlich den alten Arbeitsbegriff neu definieren und die Faulheit in vielen ihrer Spielarten rehabilitieren? Warum verweigern wir die soziale Anerkennung nicht den Hektikern, Antreibern und Einpeitschern, den Akteuren in den Hamsterrädern, den Mobilisierern und Rund-um-die-Uhr-Erreichbaren und Rastlosen. Aristoteles hatte gesagt: „Wir arbeiten, um Muße zu haben“. Wir haben aus unterschiedlichen Gründen Muße, müssen aber lernen, eine Balance zwischen Arbeit und Muße aufzustellen. Wir müssen lernen, legitime Faulheit in Form der Muße nicht mit Schlampigkeit oder Gleichgültigkeit zu verwechseln. Wenn auch die positive Faulheit dann nicht mehr zu den Lastern gezählt wird, die Trägheit des Herzens, Gleichgültigkeit, Unachtsamkeit, Gedankenlosigkeit, der Rückzug ins Private, die Reduktion menschlicher Reflexion auf das Verteilen von Likes und Beteiligung an digitalen fremdgesteuerten Empörungen zählen dann zu den Lastern.
Das vom Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, postulierte „Recht auf Faulheit“, könnte heute einvernehmlich von Konservativen, Liberalen und Marxisten umgesetzt werden – auch wenn das Grundeinkommen als Lebenssicherung für alle noch keine Mehrheit findet. Die Umwandlung von unbezahlter in bezahlte Arbeit hat da größere Chancen. Ein Einkommen ohne Gegenleistung scheint gegenwärtig noch unvorstellbar zu sein, zumindest bei denen, die es auszahlen müssen. Noch wirkt der missverstandene 2. Brief an die Thessalonicher nach, dass nicht essen soll, wer nicht arbeitet. Dieses Diktum galt aber nicht für Arbeitslose, sondern die zeitgenössischen Missionare, die selbst ihr Brot verdienen sollten.
Wenn auch die Walser in Lech/Österreich, heute in der Mehrzahl katholisch, stark durch die calvinistische Arbeitsethik geprägt sind und das „Schaffe, Schaffe, Häusle bauen ...“ internalisiert haben, bauen auch sie heute eine Sitzbank vor dem Haus und nicht mehr bloß dahinter, um nicht den Eindruck des faulenzerischen Herumsitzens zu erwecken. Entwicklung ist möglich, auch in scheinbar aussichtslosen Fällen.

Es gibt zeitliche Koinzidenzen, die, auch wenn sie erkennbar zufällig sind, Ereignisse und Aussagen bemerkenswert verknüpfen können. Das 21. Philosophicum in Lech/Österreich thematisierte vom 20. -24. September 2017 den „Mut zur Faulheit. Die Arbeit und ihr Schicksal“. Der 24. September war nicht nur zugleich der Tag der Bundestagswahl in Deutschland, sondern liturgisch auch der 25. Sonntag im Jahreskreis. Und im Lesejahr A stellt das Evangelium nach Matthäus 20, 1 – 16a Gott als einen Gutsbesitzer vor, der seine Arbeiter mit gleichem Lohn bedenkt, obwohl sie unterschiedlich lange gearbeitet haben. Gott ist nicht nur gerecht, er ist auch gütig. Er zahlt jedem den vereinbarten Lohn. Aber er kann aber auch darüber hinaus geben. Gott misst eben nicht nach unserem Maß – Gott sei Dank! Das Evangelium definiert zwar nicht den Sinn von Arbeit wie das Philosophicum, aber es macht klar, dass auch diejenigen, die noch kurz vor Ablauf der Arbeitszeit angestellt werden, zumindest bei Gott nicht benachteiligt sind. Von solch himmlischen Konditionen sind wir noch weit entfernt.


Kategorie: Religion

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