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Der Sufi-Islam in Tschetschenien und der Einbruch der Salafisten

Aus Tschetschenien kommen wenige Nachrichten. Das liegt u.a. daran, dass die Kämpfe sich nach Dagestan verlagert haben. Zudem sind viele Kämpfer in Syrien im Einsatz. Russland fürchtet ihre Rückkehr, weil sie dann den Kampf auf russischem Territorium wieder aufnehmen werden.

 

Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund für die relative Ruhe in Tschetschenien: Die einheimische Bevölkerung lehnt die salfistischen Kämpfer ab, weil sie in der Tradition des Sufitums stehen, der mystischen Tradition des Islam. Unser Russland-Korrespondent zeichnet einen geschichtlichen Aufriss, der erst die heutige Lage verständlich macht.

Aus Tschetschenien kommen wenige Nachrichten. Das liegt u.a. daran, dass die Kämpfe sich nach Dagestan verlagert haben. Zudem sind viele Kämpfer in Syrien im Einsatz. Russland fürchtet ihre Rückkehr, weil sie dann den Kampf auf russischem Territorium wieder aufnehmen werden.

 

Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund für die relative Ruhe in Tschetschenien: Die einheimische Bevölkerung lehnt die salfistischen Kämpfer ab, weil sie in der Tradition des Sufitums stehen, der mystischen Tradition des Islam. Unser Russland-Korrespondent zeichnet einen geschichtlichen Aufriss, der erst die heutige Lage verständlich macht.</p> <p>Die russische Politik im Nahen Osten ist nicht ohne Berücksichtigung der Lage im Nordkaukasus zu verstehen. Tausende von Kämpfern aus Tschetschenien und Dagestan gingen nach Syrien. Das 2007 ausgerufene Nordkaukasische Emirat hat sich 2015 dem sogenannten Khalifat (ISIS) angeschlossen und dem Khalif den Treueid geleistet. Trotzdem gilt Tschetschenien jetzt als die sicherste Region im Nordkaukasus. Man sagt sogar, dass einige Tschetschenen in Syrien nicht gegen Assad, sondern für ihn kämpfen. Um zu verstehen, warum die Beruhigung von Tschetschenien gelingt, muss man die Besonderheiten des tschetschenischen Islams, die Mentalität des Volkes und seine Geschichte berücksichtigen. Meist wird davon ausgegangen, dass die Tschetschenen für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpfen und einen islamischen Staat errichten wollen. Aber so einfach ist es nicht.</p> <h2>Der Islam in Tschetschenien </h2> <p>Die Anfänge des Islams im Nord Kaukasus gehen auf das 12. und 13. Jahrhundert zurück. Lange Zeit war die Islamisierung sehr oberflächlich, da die Bergvölker ihre eignen Traditionen nicht aufgeben wollten. Deshalb war es für islamischen Herrscher nicht einfach, sie ihrer Kontrolle zu unterwerden. Überhaupt ist der Islam in Tschetschenien von der Sufitradition geprägt. Die islamischen Gemeinden sind daher als Sufibruderschaften organisiert. </p> <p> Dieser Zustand, dass der Islam mit Adat, den traditionellen Volksbräuchen und dem traditionellen Rechtssystem verflochten war, endete im 18. Jahrhundert. Die neue Phase der Islamisierung war mit dem Kampf gegen die russische Herrschaft verbunden. Obwohl Russland schon im 16. Jahrhundert Festungen im Norden des Kaukasus‘ errichtete, waren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Beziehungen zwischen den Bergvölkern und Russland überwiegend friedlich. Viele Tschetschenen haben mit der Hand auf dem Koran dem russischen Zaren den Treueid geleistet. Als aber am Ende des 18. Jahrhunderts Russland angefangen hat, seine Herrschaft zu festigten, kam es zu einem Aufstand der Stämme. 1785 konnte Scheich Mansur (1785—1791) eine russische Armee schlagen, um damit einen längeren Konflikt mit Russland einzuleiten. Gleichzeitig hat er ein umfassendes Programm der Islamisierung auf den Weg gebracht. Sein religiöses Programm umfasste drei Teile – Umsetzung der Vorschriften der Scharia, Kampf gegen das Volksbrauchtum, so die Unterbindung der Blutrache, und die Errichtung eines theokratischen Staates. Nicht alle seine Landsleute wollten ihm folgen. Sehr oft musste er ganze Gebiete in blutigen Kämpfen erobern. Es muss auf eine Parallele auf der arabischen Halbinsel aufmerksam gemacht werden. Der noch einflussreichere Zeitgenosse Scheich Mansurs war Abd al-Wahhab (1703 – 1792), der das gleiche Programm ebenfalls mit Anwendung von Gewalt durchsetzte. </p> <p> Der Aufstand von Scheich Mansur wurde von russischen Armee niedergeschlagen und der Scheich selbst gefangengenommen.</p> <h2>Die Konzeption des Sufibruderschaften</h2> <p> Der Islam in Tschetschenien war ein Islam der Sufibruderschaften, die im 18. und 19. Jahrhundert eine große politische Rolle spielten, besonders die Nakschbandija, eine Bruderschaft aus Zentral Asien. Ein Scheich dieser Bruderschaft, Schamil, hat den nächsten Versuch unternommen, im Nordkaukasus einen unabhängigen islamischen Staat zu errichten. Ihm ist es in 40-er Jahren des 19 Jahrhunderts gelungen, in einem größeren Gebiet des Kaukasus‘ und Dagestans ein Imamat zu errichten. Er hat die Politik der Islamisierung, die Scheich Mansur begonnen hatte, fortgesetzt. Scharia wurde zum Gesetz des neuen Staates. Schamil hat auch versucht, die Volksbräuche durch das islamische Gesetz zu ersetzen. Er war einige Zeit erfolgreich. Jedoch war am Ende doch Russland wieder siegreich. 1859 wurde Schamil gefangen genommen und nach Russland ins Exil geschickt. Sein Leben in einer russischen Provinzstadt nicht weit von Moskau wurde ihm angenehm gemacht. Der Zar hat ihm sogar einen Adelstitel verliehen und ihm die Wallfahrt nach Mekka erlaubt. Nach dem Besuch der heiligen Stätten ging Schamil zum Grab des Propheten in Medina. Dort ist er auch gestorben. Wenn heute ein Tschetschene mit den Russen ein Abkommen schließen kann, dann lässt sich das aus der Behandlung des Schamils durch den Zaren erklären.</p> <h2>Islamisierung, Folge der Religionspolitik der Sowjetunion</h2> <p> Die Versuche, Tschetschenien auf eine “fundamentalistische “ Art zu islamisieren, waren bis heute nicht besonders erfolgreich. Bis heute haben die Bergtraditionen und das Brauchtum eine größere Bedeutung als die Gesetze der Scharia. Denn die gesellschaftliche Struktur ist von den Familien und Stämmen geprägt. Ein weiterer Faktor: Alle Anläufe zur Islamisierung waren mit dem Kampf für Unabhängigkeit verbunden. Das war in 90-ger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht anders, nur dass dieses Mal die äußeren Einflüsse zur Islamisierung viel größeres Gewicht bekamen als früher. Das erklärt sich auch mit der Religionspolitik der Sowjetunion. </p> <p> In der Sowjetzeit hat die Regierung versucht, die Religion auszurotten, obwohl sie zu Anfang aus taktischen Gründen einen Pakt mit den Muslimen schlossen. Es gab sogar einen Slogan, der Stalin selbst zugeschrieben wird: “Für Sowjetherschafft! Für das Scharia-Recht!”. Die Ausrottung der Religion selbst gelang zwar nicht, aber die Institutionen der Religion wurden weitgehend zerstört. Der Islam konnte daher im Nordkaukasus nur in Form des Volksislam überleben. Altes, noch aus vorislamischer Zeit stammendes Brauchtum und muslimische Theologie sind mit der Sufitradition zu einer besonderen Form des Islams verschmolzen. Da in der Sowjetzeit das öffentliche Gebet verboten war, spielte sich das religiöse Leben in den Sufibruderschaften und anderen Gemeinschaften, Dschamaat genannt, ab. </p> <p> Die Abschaffung der islamischen Schulen hat nach dem Zerfall der Sowjetunion dazu geführt, dass junge Leute aus dem nordkaukasischen Region, um islamische Theologie zu studieren, in die muslimische Staaten des Nahen Ostens reisten und von dort mit einer fundamentalistischen Vision des Islams zurückkamen. Das wurde mit einem Versuch der Tschetschenen, die Unabhängigkeit von Russland zu erreichen, auf engste verbunden. Erste Führer des Kampfes für die Unabhängigkeit Tschetscheniens waren jedoch keine Anhänger des Islam, sondern säkularisierte Offiziere der Sowjetarmee. Sie hatten nicht die Absicht, einen islamischen Staat zu errichten. Der Aufstand gegen die Zentralregierung in Moskau wurde zuerst von Nationalisten geführt. Doch konnten sie nicht auf die Hilfe ausländischer, überwiegend aus den arabischen Ländern kommenden Muslimen verzichten. Im ersten Krieg (1994 -1996) sind sie miteinander gut ausgekommen. Jedoch gewannen diese Araber mit ihrer puritanischer Vision des Islams eine größeren Einfluss auf den Koranunterricht wie auf die theologischen Diskussionen, als ihr Beitrag zum Unabhängigkeitskrieg es tatsächlich gerechtfertigt hätte. Dieses idyllische Bild von Zusammenarbeit und Solidarität hat sich fast über Nacht, nachdem Russland geschlagen war, in einen tiefen Gegensatz verwandelt. An die Stelle gegenseitiger Hilfe im Kampffeld trat wieder traditionelle Feindschaft zwischen verschiedenen tschetschenischen Clans. Das Recht des Stärkeren wurde bestimmend. Angehörige der schwächeren Clans wurden von den Mitgliedern der stärkeren Clans sogar angegriffen und erniedrigt. Das trieb sie in die Hände der Propagandisten eines puristischen Islams. Diese haben nämlich soziale Gleichheit und die Idee einer gerechten Gesellschaft nach dem Vorbild der islamischen Urgemeinde gepredigt. Noch während des Krieges gründeten die aus den arabischen Ländern kommenden Salafisten mit den radikalisierten Tschetschenen islamische Gesellschaften. Diese Dschamaats erlebten den Zustrom von Männern aus den unterlegenen Clans. Diese Dschamaats militarisierten sich. Diese Entwicklung führte zu einer großen Krise der tschetschenischen Gesellschaft. Islamistische Dschammaats haben das komplizierte Netz von Loyalitäten der Sippen und Clans gesprengt. Außerdem forderten Salafisten, dass junge Tschetschenen sich von den Sufi-Heiligen und Sufi-Scheichs lossagen. Islamistische Rhetorik wurde von den rivalisierenden politischen Gruppierungen benutzt, um gegen die herrschenden Clans vorzugehen.</p> <p> Diese Entwicklung führten bald zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der traditionellen Gesellschaft und des vom Sufismus geprägten Islams einerseits und den weniger zahlreichen, dafür aber stärker motivierten und vom Ausland unterstützten Islamisten. Als diese ihre Lehre mit Gewalt durchsetzen und sogar heilige Stätten zerstörten, kam zu heftigen Gegenreaktionen, die das Land an den Rand eines Bürgerkrieges brachten.</p> <h2>Statt tschetschenischer Bürgerkrieg Krieg mit Russland</h2> <p> Es ist nicht dazu gekommen, weil der Krieg mit Russland ausbrach. Dieser Krieg wurde durch den Einmarsch von den Dschihadisten in den westlichen Teil Dagestans, wo sie auch einige Sympathisanten hatten, ausgfelöst. Jedoch wurden sie von der einheimischen Bevölkerung nicht als Befreier empfangen, sondern stießen auf heftigen Widerstand. Die meisten Dagestaner haben sich der russischer Armee und den Sicherheitskräften angeschlossen, da sie Dschihadisten als Aggressoren und nicht als Befreier gesehen haben. </p> <p> Im diesem zweiten Tschetschenienkrieg kämpfte die russische Armee gegen eine zerstrittene Gesellschaft. Viele Tschetschenen haben sich prorussischen Milizen angeschlossen, da sie eher unter russischer als unter arabisch-wahabitischer Herrschaft leben wollten. Der militärische Sieg der Armee und die Etablierung einer moskautreuen Regierung bedeutee jedoch nicht die endgültige Lösung des Problems. Nach wie vor findet die Lehre der Salafisten besonders bei den jungen, verarmten und von der Macht und Privilegien ausgeschlossenen Muslimen viele Anhänger. Deswegen gehen die Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und militanten Islamisten in den Bergen weiter. Deswegen sind auch Viele nach Syrien gegangen, um dort zu verwirklichen, was ihnen im Nord Kaukasus bis jetzt nicht gelungen ist.</p> <p>Vladimir Pachkov</p> <p>Link:</p> <p>



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