Meistens reicht die Fähigkeit des Menschen zu schauen nur sehr kurz. Der Tag ist überschaubar, die Woche geht auch noch sehr gut, aber was darüber hinaus ist, liegt schon sehr unscharf vor. Manchmal gibt es einige klare Fixpunkte wie Urlaubstage oder Feste wie Weihnachten. Aber so richtig gut sieht man sie erst, wenn sie unmittelbar bevorstehen. Wie viel schwieriger ist es da, in den großen Perspektiven Ausschau zu halten? Wo man in zehn Jahren steht, weiß man nicht. Optimistisch zahlt man in die Rentenkasse ein.
Dann gibt es verschiedene Leute, die einem anbieten, diese Zukunft ein bisschen zu lüften. Sie meinen, die Unschärfe nehmen zu können. Da es bei der individuellen Zukunft doch recht schwierig ist, genaue Vorhersagen zu treffen, nimmt man lieber das große Ganze, die Menschheit. «Wenn es so weiter geht, dann werden wir…» - die Städte werden verpestet, Migrationsströme werden Mitteleuropa überfluten, das Öl wird ausgehen, die Erde überhitzt, der Mars wird besiedelt, der Mensch wird nicht mehr sterben dank der Medizin, die Meere werden mit Plastik verseucht sein und Atomkraftwerke verstrahlen alles. – Nach all diesen Zukunftsprophetien soll der Mensch sich ausrichten. Er soll daher seinen Diesel verkaufen, er soll die Grenzen dicht- oder aufmachen, je nachdem, er soll auf alternative Energien umsteigen, er soll stromsparende Elektrogeräte kaufen, er soll stolz auf NASA oder ESA sein, er soll seine Hoffnung in Kryo- und Gentechnik setzen, er soll die Mülltrennung perfektionieren, er soll sich Photovoltaik auf das Dach kleben. Und wenn der einzelne nach drückender Moralbelehrung immer noch nicht spuren will, so gießt der Staat seine magnetische Macht per Gesetz über ihn aus.
Der Kompass dreht schon sehr am Rad. Bei den Grünen weiß man nicht mehr so genau, ob Wald abholzen gut oder schlecht ist. Sind Windkraftanlagen grün oder nicht? Für die Windräder Wald abholzen – ja, bitte; für Braunkohle – nein, danke! Oder sog. Naturprodukte: Die Natur ist gut, also sollen wir nach ihr leben. Aber ein saftiges Stück Steak, oh nein! Dagegen ein bisschen hochgradig aufbereitetes Stevia aus Mexiko, wie gerne!
Der Nachfolger Christi hat eine gute Alternative zu diesen Polkappen. Er weiß, dass er selbst trotz Energiesparlampen und Mülltrennung den Weg allen Fleisches gehen muss: Er stirbt. Da ändern auch die Heils- und Unheilsversprechen unserer Tage nichts. Mors certa, hora incerta. Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss. Die Verheißung Jesu sieht ganz anders aus, als das, was man Tag für Tag angeboten bekommt. Seine Prophezeiungen wechseln nicht mit der Mode. Sie steht fest. Was gibt Jesus als Pol für den inneren Kompass an?
Zunächst verfinstern sich Sonne und Mond. Die Sonne, das ist das Licht Gottes selbst. Das Licht des Glaubens, die Herrlichkeit Christi, verblasst. Die Menschen gehen daher im Dunkel. Die Vernunft wird ihnen abgehen. Der sog. gesunde Menschenverstand macht die Grätsche. Der Aberglaube wächst und die Menschen wenden sich Quacksalbern zu. Die Zahl derer, die falsche Heilsversprechen machen, nimmt zu. Sie kommen im Gewande des Heilands, aber sie sind keine Heilande. Sie sind Scharlatane. Dann der Mond, das Bild der Kirche, verliert auch ihre Strahlkraft. Er spendet normalerweise in der Dunkelheit Licht. Doch die Kirche selbst verfinstert sich. Auch dort fehlt es an Vernunft. Sie verlässt den Weg des wahren Glaubens und wendet sich der Pseudoprophetie zu. Sie passt sich ihrer Zeit an.
Schließlich fallen die Sterne. Das sind die großen Persönlichkeiten, die Menschen, die als Vorbilder dienen. Sie spenden Orientierung in der Nacht. Sie sind im Weltbild fest verankert. Doch diese Anker werden gelöst. Sie fallen aus dem Weltbild heraus. Es gibt keine Menschen, an denen man sich orientieren kann. Das ist die vaterlose Gesellschaft.
Die Kräfte des Himmels werden erschüttert. Es sind die Kräfte, die den irdischen Menschen aus seiner Diesseitigkeit herausheben. Sie heben den Menschen empor zu der wahren Größe der Wirklichkeit; zu dem, was für Platon der Ideenhimmel war, wo die Gerechtigkeit, die Schönheit, das Gute beheimatet sind. Solche Kräfte gab es in der Kunst. Eine Bachkantate konnte das Herz emporheben, ein Caravaggio entrückte den Geist. Doch die Schönheit der Kunst wurde eingetauscht gegen eine Wertanlage. Sie verhilft nicht mehr dem Geist zu einem adlergleichen Höhenflug.
Dann wird man den Menschensohn sehen in Herrlichkeit und er wird die Welt vollenden. Er wird seine Engel aussenden und die Auserwählten von allen Enden der Erde und des Himmels zusammen führen. Die Stunde der Entscheidung kommt. Der Ernstfall des Lebens tritt ein, der persönliche Ernstfall. Es sind nicht die Hirten der Welt, die Regierenden, es sind nicht die Hirten der Kirche, die Bischöfe, die am Ende sammeln werden. Es ist Gott selbst, der sein Volk versammelt.
Das ist der seelische Norden, der Pol, an dem sich der Mensch ausrichten soll. Er lebt nicht auf den Klimawandel hin, sondern auf den Ernstfall, den Tag der Entscheidung. Er lebt auf den Tag hin, da er Gott begegnet. Er lebt auf den Tag der Rechenschaft hin, den Tag, an dem der Schlussstrich gezogen wird.
Nur dieser lebendige Pol hat Kraft, das Leben vollständig zu erfassen und in allem auszurichten. Sokrates, der große Philosoph, lebte auf diesen Tag hin. Sein Kompass hatte diese Richtung und das gab ihm Kraft für sein irdisches Gerichtsverfahren und Kraft, den Giftbecher zu leeren.
Es ist der gleiche Pol, an dem ein Paulus ausgerichtet war. Er lebte in ständiger Erwartung des Menschensohnes. Alles, was er tat, lebte auf die endgültige Begegnung mit Gott, seinem Schöpfer, hin. Darin fand er Kraft, trotz mehrfacher Steinigung, Gefängnis, Auspeitschen. Darin fand er Kraft, den Schiffbruch zu überleben, und schließlich hingerichtet zu werden.
Auch ein Thomas Morus, als einer der Mächtigen seiner Zeit, lebte auf diesen Punkt hin. Es machte ihn derart stark, dem König, seinem Freunde, zu widerstehen und in Treue zu Gott enthauptet zu werden. Ein Maximilian Kolbe tauschte sich durch diese Perspektive mit einem zu Tode Verurteilten ein.
Sie lebten alle in der Sehnsucht nach der Begegnung mit Gott. Sie lebten auf den Ernstfall hin. Jesus mahnt uns, die Zeichen zu sehen. Wir können es erkennen, wie man am Feigenbaum den Sommer erkennen kann. Die Zeichen sind alle da. Sie waren auch zu Zeiten des Paulus da. Was heißt das? Wir sollen zu jeder Zeit in der Erwartung leben, in der Paulus lebte. – Die Exegeten meinen ja, Paulus habe sich in seiner Erwartung geirrt. Es wäre doch anders gekommen. Der geistliche Mensch sieht aber, dass sich Paulus nicht geirrt hat. Denn die Erwartung der Menschensohnes ist nicht zeitlich, sondern existenziell zu verstehen. Es ist eine große Torheit zu meinen, dass der Tag des Ernstfalles nicht kommen würde. Jeder wird dem Auferstandenen begegnen. Jedem wird der Schlussstrich gezogen. Die Worte Jesu sollen uns eine Ermahnung sein, zu jeder Zeit auf diesen Tag hin zu leben und uns auszurichten.
Es scheint ein großes Rätsel zu sein, warum die Kirche in unseren Tagen keine Orientierung mehr schenkt. Die Antwort liegt in den Worten Jesu offenkundig dargeboten: Ihr sollt ausschauen, wachen und beten. Ihr sollt diesen Tag erwarten. Die Kirche erwartet momentan diesen Tag nicht. Sie schaut nicht aus nach ihm. Sie wacht nicht in seiner Erwartung. Dabei ist Wachen eine Art der Vorbereitung auf diesen Tag. Und sie betet nicht um diesen Tag.
Wie fängt die Kirche an, wieder Orientierung zu geben? Sie muss den seelischen Pol aufrichten. Sie muss Christus entgegen blicken, wachen und beten. Wo fängt das an? Bis 1970 hatte man die Nachtwachen, die Vigilien, im liturgischen Leben verankert. Dort wurde auf den Herrn gewartet. Seitdem hält die Kirche aber keine Nachtwachen mehr. Sie erwartet Gott nicht mehr. Und sie betet auch nicht mehr in Richtung der aufgehenden Sonne, nach Osten, in die Richtung aus der symbolisch der Herr wiederkommt. Sie betet ihm nicht entgegen, sondern von ihm weg. Solange die Zelebrationsrichtung des Priesters ad populum, zum Volk, ist, wird das nichts mit dem Kompass. Und schließlich ist es der Blick auf den Armen. In ihm erkennen wir den kommenden Christus. Die Kirche kennt den kommenden Christus im Armen nicht. Sie kennt dafür Caritas und Kirchensteuer, die Mittel, um den Armen nicht mehr sehen zu müssen.
Da die Amtskirche im Dunkel umhergeht, das Licht des Mondes nicht mehr scheint, wird es von ihr auch keine Orientierung geben. Von ihr ist nichts zu erwarten. So war es schon oft in der Geschichte. Es ist der einzelne, der einfache Christ, der in der Verantwortung steht und Orientierung finden muss. Er selbst muss das Experiment der Nachtwachen wagen, er selbst muss Christus entgegenblicken, er selbst muss den Armen suchen, um Christus zu finden. Dann zeigt langsam, aber sicher der seelische Kompass in die richtige Richtung. Und alles findet sein rechtes Maß und das Leben wird sein Ziel am Tag der Entscheidung erreichen.
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