Am 19. Februar 2021 jähren sich die Morde von Hanau. Tobias Rathjen erschoss aus rassistischen Motiven neun People of Color. Die bedeutende Frage, wer zu Deutschland gehört wartet, offengelegt durch die Anschläge in Hanau und Halle, weiter auf eine klare Antwort.
Eine der faszinierendsten Eigenschaften ist ihr geschmeidiger und leichter Abzug. Der geringe Kraftaufwand, der notwendig ist, sie zu bedienen, macht sie zu einem Verkaufsschlager. Nicht ohne Grund ist sie bewährter Teil der Ausrüstung vieler Streitkräfte und Polizeieinheiten. Ihr bemerkenswertes 17-Schussmagazin sowie ihre Tandemschießfeder, die den Rückstoß reduziert und die Handhabung vereinfacht, machen ein Abfeuern in hoher Frequenz möglich, so die Angaben des österreichischen Herstellers. Ihre, oftmals von Experten hervorgehobene, Zuverlässigkeit erfolgt vor allem durch die aufgeraute Oberfläche. Diese ermöglicht präzise und gute Ergebnisse, da auch bei schwitzigen Händen genügend Grip vorhanden ist. Die Glock 17, Kaliber 9mm, macht schlechte Schützen zu guten.
Die bewährte Qualität der Glock wird entscheidend dafür gewesen sein, warum Tobias Rathjen sich für sie am 19. Februar entschieden hat. Minutiös vorbereitet, ermordete er in Hanau neun Menschen, danach seine Mutter und richtete sich schließlich selbst. Galt er bis zur Tat als ruhiger Bankkaufmann, der wieder bei seiner Mutter wohnte, brachen sich im Februar 2020 seine paranoide Schizophrenie und sein politischer Fanatismus bahn. Sein Weltbild, so ist es seinem „Pamphlet“ zu entnehmen, war geprägt von rassistischen, islamfeindlichen, antisemitischen und frauenfeindlichen Verschwörungsmythen. In Deutschland sei das Schönste und Beste entstanden, was die Welt hervorgebracht habe, so Rathjen. Leider gäbe es gleichzeitig „destruktive Völker“. Vor allem diejenigen Kulturen mit muslimischem Bevölkerungsanteil, sowie Israel, müssten daher ausgelöscht werden. Notwendig seien, in seinen Augen, auch „Säuberungen“ gegen „unwertes Leben“ in afrikanischen Ländern, Süd- und Mittelamerika, sowie in Deutschland. Vor allem hier hätten bestimmte „Volksgruppen“ ein „schlechtes Verhalten“. Bereits durch deren Aussehen seien sie instinktiv abzulehnen. Hinzu käme, dass sie sich nicht als „leistungsfähig“ erwiesen hätten. Diesen Ansichten folgend kann sich Rathjen eine Halbierung der deutschen Bevölkerung durch „Säuberungen“ vorstellen. Da „nicht jeder, der heute einen deutschen Pass besitzt, reinrassig und wertvoll ist.“
Am 19. Februar entschied Tobias Rathjen selbst, wer reinrassig und wer wertvoll sei. Wer dazu gehöre und wer nicht. Die zuverlässige Glock diente ihm als Werkzeug, um seine Gedanken in die Tat umzusetzen. 12 Minuten reichten aus. Opfer seines Hasses wurden neun Menschen. Ihm nach gehörten diese nicht nach Deutschland: Gökhan Gültekin (37) mit kurdischen Wurzeln; Sedat Gürbüz (30); Said Nesar Hashemi (21), Deutsch-Afghane; Mercedes Kierpacz (35), schwanger und deutsche Romni mit polnischen Wurzeln; Hamza Kurtović (22), seine Familie floh vor antimuslimischer Verfolgung aus Bosnien-Herzegowina; Viti Viorel Păun (23), rumänischer Rom; Fatih Saraçoğlu (34); Ferhat Unver (23), Kind kurdischer Eltern und Kaloyan Velkov (33), bulgarischer Rom. Am 19. Februar entschied das Aussehen, wer dazu gehört. Der Mord an ihnen wirft Fragen auf. Bereits der NSU, der Mord an Walter Lübcke oder der Anschlag in Halle haben die gleichen Fragen an die Gesellschaft gestellt, die nicht beantwortet sind. Dennoch scheint der Allgemeinheit der Übergang zur „Tagesordnung“ nach rechtsextremistischen Vorfällen wichtiger zu sein.
Rathjen hat aus Hass gemordet. Eine Möglichkeit darauf zu reagieren, ist mit dem zu antworten, was durch Erfahrungen mit dem gleichen Hass entstanden ist. Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist eine in Schrift geronnene Absage an Menschenverachtung. Es will sagen: Wir werden der deutschen Geschichte, wozu der 19. Februar gehört, nur gerecht werden, wenn wir verstehen: Wir alle gehören dazu!
Das Grundgesetz sagt in Artikel 116, Absatz 1: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt […]“. Die Verfassung kennt demnach keine Definition des Deutschseins über die Herkunft, sondern verweist in aller Nüchternheit auf ein behördliches Dokument. Der Unterschied zu der Zeit vor 1945 ist klar erkennbar. Dennoch wird diese Definition gegenwärtig von immer mehr Menschen in politischen Debatten negativ verwendet. Sie sprechen von „Bio-“ oder abwertend von „Passdeutschen“. Ihrer Meinung nach langt es nicht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, um Deutsche*r zu sein. Es brauche mehr. Der Pass allein reiche nicht. Wodurch die Regelung des Grundgesetzes untergraben wird. Menschen mit Migrationshintergrund und deutschem Pass kennen allzu gut dieses Niemandsland für die eigene Identität.
Was ist mit den Menschen, die Deutschland ihre Heimat nennen, aber keinen deutschen Pass haben? Braucht man, um sich Deutsche*r nennen zu dürfen, einen Pass oder nun doch eine „reine“ Familiengeschichte? Oder nur eins von beiden? Oder beides? Vielleicht will uns eine andere Stelle des Grundgesetzes eine Antwort geben. In dessen Präambel heißt es: „In Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen hat sich das Deutsche Volk […] dieses Grundgesetz gegeben.“ Will man diese Worte ernst nehmen, dürfen weder ein Pass, das Aussehen, noch eine Glock 17 entscheiden, wer dazu gehört. Nach 1945 war die Einsicht unumgänglich: Das neu zu erschaffende Deutschland gründet nicht auf der Hautfarbe oder der Herkunft, sondern auf der Aufgabe und der Verantwortung, „in einem vereinten Europa, dem Frieden der Welt zu dienen.“
Wer gehört dazu? Wer ist Deutsche*r, wenn nicht der, der diese Aufgabe annimmt? Das Deutschsein steht jedem offen – unabhängig vom Pass. Es beginnt, wenn überhaupt, vorher. Es gibt keine „Pass-“ oder „Biodeutschen“. Deutscher ist der, der Deutscher sein will.
Sollen die zukünftigen Rathjens, mit ihren präzisen und geschmeidigen Glock 17s, vorgeben, wer deutsch genug ist? Trauen wir uns nicht als Bundesrepublik zu sagen: Jeder, der will, gehört dazu? Das Grundgesetz kennt keine derartigen Grenzen. Sollten unsere Herzen hingegen im Gedenken an Gökhan, Sedat, Said, Mercedes, Viti, Fatih, Ferhat, Kaloyan und Hamza derartige Grenzen kennen? Die stärkere Waffe gegen jeden Hass und jede Glock ist das „Nicht-Kennen“ der Frage: Wer gehört dazu?
Nach Hanau bleibt, angelehnt an die Worte Martin Luther Kings, allein zu hoffen:
Wir haben „einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird“: Wir alle gehören dazu! Wir alle sind Deutsche! Deutscher ist, wer Deutscher sein will!
Ein Kommentar von Sachell Karl Rapp
(Sohn einer deutschen Mutter und eines Vaters aus der Dominikanischen Republik)
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