Das Alltagsleben ist spürbar anders
Nach drei Jahren ist dieses Thema schwierig und schmerzhaft geblieben. Man ist schon gewohnt, in den Morgen- oder Abendnachrichten über die Zahl der Flüchtlinge, der gefallenen Soldaten und der zerstörten Wohnhäuser informiert zu werden. Es klingt befremdlich, dass in fast allen Supermärkten Lebensmittel für die ukrainischen Truppen in der Feuerlinie gesammelt werden. Leistungen der staatlichen Stellen für die Flüchtlinge sind zur Regel geworden. Scrollt man in den Social Media, stößt man regelmäßig auf die Posts von gesellschaftlichen Initiativen wie von Prominenten, die entweder Mittel für die neue Ausrüstung sammeln oder über die schon ausgegebenen Beträge berichten. Die Militärs in Uniform sind in der U-Bahn keine seltene Erscheinung mehr. Die gewöhnliche Fahrt zu den Großeltern ins Dorf ist jetzt eine echte Herausforderung, wenn wir von einem Dorf in Luhansk oder im Donezk-Gebiet sprechen. Aktionen und Veranstaltungen zur Unterstützung der ukrainische Armee, Freiwilligenorganisationen, unter deren es auch Betrüger gibt, gehören zum Alltag der Ukraine, in der „friedlichen Ukraine“, wo nur das matte Echo der Kriegsereignisse bemerkbar ist. Im Unterschied zu der Ostukraine, wo die Menschen sich schon daran gewöhnt haben, mit Bombenanschlägen einzuschlafen und wochenlang ohne Strom und Wasser auskommen müssen. Dort herrschen ganz andere Lebensregeln, wenn es überhaupt noch solche gibt.
Die Aussichtlosigkeit wirkt deprimierend
Die Menschen sind ganz unterschiedlich eingestellt und ihre Empfindungen sind nicht so leicht nachvollziehbar. Die Palette der Gefühle ist sehr breit: von Hoffnungslosigkeit gemischt mit geistiger Erschöpfung bis Missverständnis und Gleichgültigkeit. Die Mehrheit meidet in Unterhaltungen das Thema und spricht bei einer Tasse Kaffee lieber über anderes. Das ist zu verstehen. Einige sind einfach müde, nicht nur vom Krieg, sondern auch von den Gesprächen, den enttäuschten Erwartungen, den Versprechungen. Andere unterstützen die Armee, die Familien der Soldaten, Flüchtlinge und Kinder. Sie empfinden das als inneres „Muss“. Weiterhin melden sich viele Freiwillige, die nach Osten fahren. Viele ukrainische Schriftsteller, Sänger, Schauspieler und Politiker engagieren sich. Die Menschen sehen kein Ende des Krieges. Diese deprimierende Perspektive wirkt sich natürlich aus.
Es ist kein Bürgerkrieg
Bis vor einiger Zeit wurde in den Medien anderer Länder von „Bürgerkrieg“, „prorussischen Separatisten“, „Krise“ gesprochen oder andere Euphemismen gebraucht. Inzwischen wird die Wahrheit allerdings zunehmend direkt benannt. In der Ukraine weiß jeder, dass das kein Bürgerkrieg oder interner Konflikt ist, sondern ein Krieg mit der Russischen Föderation. Die Separatisten oder „prorussisch eingestellte Bürger“ können nicht auf Dauer ohne massive Unterstützung einen solchen Kampf durchhalten. Die regulären Truppen, ausgerüstet mit Waffen, Panzern und schwerer Artillerie, sind selbstverständlich keine zufälligen Rebellen. Zudem wird offen erklärt, dass der sogenannte Plan „Noworossija“, d.h. „Neurussland“ mit der Annexion der Krim sowie dem Anschluss der südöstlichen Gebiete der Ukraine an Russland von Putin schon seit Jahren vorbereitet wurde. Der russische Herrscher rechnete jedoch nicht damit, dass seine imperialistischen Vorhaben scheitern könnten. Die Ukrainer und besonders die ukrainische Armee, die einem Phönix gleich aus dem Nichts wiedergeboren wurde, haben gezeigt, dass die Annexion nicht einfach hingenommen wird. 2014 war es kaum vorstellbar, dass sich die miserabel ausgestatteten Freiwilligen nach einigen Jahren in eine professionelle Truppe verwandeln könnten. Hierbei muss man in erster Linie den Freiwilligen dankbar sein, ohne deren Hilfe diese Reorganisation kaum möglich gewesen wäre, da die staatliche Versorgung sehr zu wünschen lässt.
Informationskrieg und eine neue Ukraine
Alle Hoffnungen auf das Ende des Krieges oder mindestens auf eine Waffenruhe schwinden langsam. . Alle Bemühungen, einen Waffenstillstand durch das Minsker Friedensabkommen zu erreichen, haben sich als nichtig erwiesen. Der Krieg in der Ostukraine hinterlässt tiefe Spuren weit über die Frontlinie hinaus. Jeder Bürger der Ukraine entscheidet für sich, inwieweit er sich von diesem Krieg betroffen fühlt. Für mich und viele andere geht es um die weitere Entwicklung des Landes. In diesem Kampf geht es nicht allein um Grenzen und Territorien, sondern um die Menschen, um die Zukunft. Winston Churchill hat einmal gesagt: „Den Krieg werden wir gewinnen, aber für wen dann?“ Wir Ukrainer müssen realisieren, dass diese schwierigen Vorgänge uns aufgezwungen sind. Wenn die schwierigen Zeiten einmal vorbei sein werden, hängt es von uns ab, in welchem Land wir leben werden. Das bedeutet dann, dass man nicht unbedingt an die Front gehen muss, um das eigene Landes zu entwickeln. Den Ukrainern steht noch bevor, die inneren Feinde zu überwinden, die Korruption, die Bürokratie, die Gleichgültigkeit und eine Herrschaft des Gesetzes aufzurichten. Nicht nur Militärs, sondern alle Menschen müssen verstehen, wofür sie kämpfen, welche Zukunft auf ihre Kinder wartet. Dieses Ziel kann nicht nur an die Regierung oder einzelnen Persönlichkeiten delegiert werden, es ist vielmehr die Aufgabe aller Ukrainer. Die Kraft kommt aus der Einigkeit über die Ziele.
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