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Eine Streitschrift für den Osten

Als Bürger „Zweiter Klasse“ fühlen sich die Menschen im Osten Deutschlands. Eine sächsische Ministerin, Petra Köpping, legt die Wunden frei, die durch das Auftreten der Westdeutschen in den neunziger Jahren aufgerissen wurden und nicht heilen wollen. „Integriert erst mal uns“ ist der Titel ihrer Streitschrift. Eine Einordung in die Politik nach der Wende von Ulrich van der Heyden

Eigentlich ist es ein politisches Armutszeugnis, wenn nach fast drei Jahrzehnten so ein Buch wie dieses von Petra Köpping, Staatsministerin für Gleichstellung und Integration des Freistaates Sachsen, auf dem Markt erscheinen muss. Denn es geht um die die meisten Ostdeutschen gegenwärtig noch immer in der einen oder anderen Weise mehr oder minder stark berührenden Folgen der staatlichen deutschen Vereinigung von 1990.

AfD als Protestbewegung für Ostdeutsche

Das würde vermutlich auch heute noch keinen Politiker interessieren, wenn es nicht seit einigen Jahren eine überraschende Protestbewegung vornehmlich im Süden Ostdeutschlands gäbe, die sich teilweise an rechtspopulistische Parolen angenähert hat. Nämlich mit solchen konkreten Fragen, die eigentlich die Linken auf ihre politische Tagesordnung hätten setzen müssen. Einige Jahre lang hatte das die PDS/Die Linke ja auch getan. Aber dann waren andere Themen für die inzwischen in der gesamtdeutschen Politlandschaft angekommenen Funktionäre relevanter. Da spielten schneller Erfolg versprechende und nicht aus dem Mainstream ausbrechende periphere Fragen für sie nunmehr eine wichtigere Rolle als die Bedürfnisse der Wähler, die sie erst in die gut dotierten Positionen gebracht hatten.
Erst als die sich auf den Straßen lauthals zu Wort meldenden Bürger, die, nicht ohne Berechtigung als „Wutbürger“ zuweilen bezeichnet werden, in Gefahr gerieten, in die Klauen der rechten Rattenfänger zu geraten, wachten einige auf.
Aber es waren keine Linken-Politiker, die Aufmerksamkeit damit erlangten, dass sie sich vehement den Problemen der Folgen des „deutschen Vereinigungsprozesses“ annahmen. Als erste machte in jüngerer Vergangenheit mit der notwendigen Verve Petra Köpping auf die Tatsache aufmerksam, als sie wissen ließ, dass „Viele im Westen gar nicht wissen, was im Osten passiert ist“. Das sagte sie in einem Interview im vergangenen Jahr.

Die Schicksalseinbrüche der Nachwendezeit

Zu einem späteren Zeitpunkt erläuterte sie in einem Gespräch mit der Deutschen Presseagentur etwas genauer, was sie meinte. Sie bezog sich auf selbst erlebte Vorgänge und Beobachtungen, so dass sie kein Blatt vor den Mund nehmen musste. So beklagte Frau Köpping, dass es eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Nachwendezeit, den Schicksalsumbrüchen und Hoffnungen der Ostdeutschen kaum noch gebe. „Tat man es dennoch, war man sofort ‚Jammer-Ossi‘ oder ‚DDR-Nostalgiker‘“, sagte sie. Ihre Mahnungen hätten die SPD-Genossen auf Bundesebene aber ignoriert, so die Politikerin. Jene seien im Wahljahr 2017 eher mit ihren Träumen von der Kanzlerschaft – und dem Zusammenhalten der Großen Koalition, könnte hinzugefügt werden – befasst gewesen. „Das machte die Leute erst recht wütend, oder es machte sie stumm.“ In Westdeutschland gebliebene Westdeutsche hätten keinen Schimmer über die Umbrüche im Osten, befand die SPD-Ministerin. Niemand habe selbst zaghaft vorgetragene Probleme wirklich ernst genommen, niemand die Lebensleistungen der Ostdeutschen gewürdigt. „Niemand hat zugehört. Das ist bei vielen Menschen eine Kränkung, die bis heute wirkt.“ Es gebe unzählige Beispiele, wie Menschen über den Tisch gezogen worden seien, weil sie blauäugig waren und die neuen Regeln im staatlich zusammengefügten Vaterland nicht überblickten. Manche hätten bis heute mit Schulden aus dieser Zeit zu kämpfen.

Westdeutsche übernahmen das Regiment

Auch die Besetzung von Führungspositionen mit fast ausschließlich Westdeutschen sei für viele „ein Stachel der Demütigung im Fleisch“ gewesen. Die größten Wunden riefen selbstverständlich die „Schläge“ hervor, die ganz direkt den Menschen zugefügt wurden. Die meisten Ostdeutschen hätten nach der Vereinigung mangels Eigenkapital keine Kredite bekommen. Köpping erinnert an diejenigen, denen unnütze Versicherungen aufgeschwatzt und schrottreife Gebrauchtwagen überteuert angedreht, denen Immobilien und antike Möbel für wenig Geld abgeluchst wurden. „Und während man sich selbst beim Verlieren zusah, schienen andere zu gewinnen.“ Und das soll Demokratie sein?, hätten sich viele gefragt.
Diese Begegnungen mit Menschen aus jener Gegend, in der auch sie sozialisiert worden ist, und die ihr gegenüber ihren angestauten Frust Luft machten, schienen nunmehr bei Frau Köpping und bald danach auch bei anderen Politikern angekommen zu sein. Sie musste feststellen (wenngleich diese Feststellung sie eigentlich nicht hätte überraschen dürfen, wenn sie die Füße seit den Wendeereignissen auf dem Boden gehabt und die allgegenwärtigen Probleme nicht aus Karrieregründen übersehen hätte), dass sie mit ihrem Amt nicht nur aktuell mit der Integration von Flüchtlingen und aus sonstigen Gründen nach Deutschland kommenden Ausländern zu tun hat, sondern auch mit dem Ankommen und der Akzeptanz der Ostdeutschen in der gesamtdeutschen Gesellschaft. Sie möchte, wie in einem Zeitungsartikel kommentiert wurde, „die Nachwendejahre im Osten aufarbeiten, die Zeit des gewaltigen Umbruchs, als Menschen die Freiheit gewonnen hatten, aber vieles verloren: Arbeit, das Gefühl der Sicherheit, ihr altes Leben, die Heimat.“

Deutsche „Zweiter Klasse“

Wozu konnte man denn die „gewonnene Freiheit“ nutzen, wenn es einen sozialen Abstieg bis hin zu Existenzängsten gegeben hat, könnte man fragen, aber Frau Köpping hat es wohl ernstgemeint mit ihrer Feststellung, auch wenn sie damit unangenehme Fragen provozierte. In ihren Gesprächen und Kontakten mit dem Wahl-Volk hat sich dann wohl die Erkenntnis Bahn gebrochen, einmal nach den Ursachen für den Frust zu suchen. Die „heilige Kuh“ der Wiedervereinigung, wie sie Helmut Kohl in typischer deutscher kolonialer Überheblichkeit vorangetrieben hat, zu schlachten, ist nicht die Absicht der sächsischen Ministerin, ehemaliges Mitglied der SED. Denn dazu müsste man doch einmal fragen, ob die Ostdeutschen auch späterhin so gewählt hätten, als sie arbeitslos geworden und zu Deutschen zweiter Klasse geworden waren, als sie bemerken mussten, dass nichts, wofür sie ihr Kreuz auf dem Wahlzettel am 18. März 1990 gemacht hatten, für sie persönlich zutraf, als ihnen also die Folgen ihrer Wahl bewusst geworden waren. Aber eine solche Frage zu stellen, würde an der Einmaligkeit der Vereinigung zerschellen und würde auch für ostdeutsche Politiker zu weit gehen!

Die Demütigungen der Nachwendezeit

Dennoch wurden die Forderungen, sich dem Nachwende-Prozess kritisch zu stellen, in dem vorgegebenen demokratischen Rahmen in den vergangenen zwei/drei Jahren lauter. Dabei habe sie, so die Politikerin Köpping, bei ihren Reisen und Veranstaltungen immer wieder dieselben Geschichten gehört von persönlicher Betroffenheit vieler Ostdeutscher, von dem, was viele 1990 wollten, die sich jedoch den daraus ergebenden Konsequenzen nicht bewusst waren. Zunächst die große Euphorie der deutschen Einheit, dann die ernüchternde Realität: Arbeitslosigkeit, keine Chance in den de-industrialisierten kleineren Städten und auf dem Lande je wieder einen Job zu finden. Also waren Umschulungen, ABM, nicht eingehaltene politische Versprechen, Betrügereien und warme Worte, die nichts brachten, die konsequente Folge. Das berufliche Abstellgleis wurde länger. Für so manchen, der nicht der Arbeit im Westen hinterherjagen konnte, war es ein Kampf ums Überleben, was auch Folgen für die nachfolgende Generation hatte. Es ist wohl kein Wunder, dass sich daraus Frust und Wut bis in die Gegenwart entwickelten. Ein anderer Grund als die Hinterfragung der vornehmlich von Helmut Kohl zu verantwortenden Weise der Wiedervereinigung, die bekanntlich nur sehr wenige der versprochenen blühenden Landschaften hervorbrachte, musste her:

Die Treuhandanstalt: Misstrauen gegenüber westdeutschen Institutionen

Denn in der Erinnerung Ostdeutscher in einem Alter von über 40 soll sich laut wissenschaftlichen Untersuchungen der Frust insbesondere auf die Treuhand fokussieren. Die Treuhandanstalt, die im Sommer 1990 die Verfügungsgewalt über rund 8.000 Betriebe der DDR mit rund vier Millionen Beschäftigten erhielt, sollte die vormals volkseigenen Betriebe schnell in markt- und wettbewerbsfähige Firmen in Privatbesitz überführen. Ende 1992 hatte die Organisation unter Leitung westdeutscher Industriemanager, Unternehmer, Anwälte und Beamter die gestellte Aufgabe durch Privatisierungen und Stilllegungen erfüllt und dabei ein dreistelliges Milliardendefizit eingefahren. Dieser Prozess, so im Herbst 2017 die damalige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke, sei für viele Ostdeutsche „mit entscheidenden und prägenden biographischen Verlusterfahrungen und erlittenen Enttäuschungen mit Blick auf die freiheitliche Demokratie und die soziale Marktwirtschaft verbunden“. Die Erinnerung an die Demütigung durch die Treuhandanstalt habe „ein Trauma im Osten hinterlassen“ und „erweise sich als prägender Faktor der politischen Kultur“, hieß es in den letzten zwei Jahren, sich dabei auf Äußerungen der beiden Politikerinnen berufend, mehrmals in Tageszeitungen. In einer vom Bundesministerium in Auftrag gegebenen Studie zur Treuhand hieß es dann sogar, dass diese „die Ursünde der Wiedervereinigung“ sei. Deutlich wird in der von der Ruhr-Universität Bochum erarbeiteten Untersuchung zur „Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt“, dass viele Ostdeutsche negative Umbrucherfahrungen in der Wendezeit mit der „Treuhand“ hatten und sie als eine Art „Bad Bank der Wiedervereinigung“ werten. Daraus resultiere bis heute „ein tiefsitzendes kulturelles Misstrauen“ gegenüber bundesdeutschen Institutionen, so der Leiter der Studie.
Diese und ähnliche Ergebnisse sowie persönliche Erkenntnisse und Erfahrungen bilden den Grundstock des Textes des Anfang 2019 bereits in fünfter Auflage erschienenen Buches von Petra Köpping.
Trotz der in diesem Beitrag zum Ausdruck gekommenen Skepsis gegenüber einer Politikerin, die nach fast drei Jahrzehnten erst mitbekommen haben will, dass etwas im „Vereinigungsprozess“ schiefgelaufen ist, sollte man ihrem Mut Respekt zollen. Wie genügend bekannt, wird sicherlich versucht werden, solche ausgemachten und im Buch von Petra Köpping benannten politischen Unruheherde mit vielen Versprechungen, Beschwichtigungen und kleinen Schritten zu löschen und den Volkszorn zu besänftigen. Aber viel wird es nicht bringen können. Denn die Messen sind alle gesungen! Wann und ob überhaupt die sächsische Gleichstellungsministerin dazu noch einmal ihren Lesern und Wählern Antwort geben kann, entscheidet sich in der Zukunft.

Kaum Perspektiven

Selbst beim besten Willen, die Handlungsbereitschaft der Regierungsparteien vorausgesetzt, bleibt die Frage, was überhaupt noch getan werden könnte. Denn die Gewinne der Treuhand(manager) sind schon längst versickert, Betriebe verschwunden, Landschaften entvölkert, die Jugend aus dem Osten Deutschlands fortgezogen, die Altersarmut ist im Anrollen. Aber optimistisch verkündet Frau Köpping: „Manche Dinge können durchaus noch repariert werden. Dazu muss der politische Mut aufgebracht werden“ (S. 158). Auch mit großem Optimismus betrachtet, wird dies kaum möglich sein. Wer nach mehr als einem viertel Jahrhundert es noch nicht geschafft hat, die Renten und die Löhne zwischen Ost und West anzugleichen, der wird auch andere „Dinge“ nicht mehr „reparieren“ können.
Denn es gehört mehr dazu als ein folgenloses Tateingeständnis über den Raubcharakter der Treuhand und über materielle und identitätsstiftende Verluste der Ostdeutschen durch diese Institution. Die erschütternden Erfahrungen mit Demütigungen, die Erinnerungsverbote in deutsch-deutschen Debatten, die Geschichtsklitterungen, die fast ausschließlich westlichen Sichten auf die Vergangenheit der beiden deutschen Staaten – insbesondere auf die DDR – und vieles andere mehr werden in der davon betroffenen Generation und vermutlich auch in den nachfolgenden nicht vergessen werden. Und wenn nicht vergessen wird, kann keine Integration gelingen.

Köpping, Petra: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, 5. Auflage, Christoph Links Verlag, Berlin 2019, 203 S.


Kategorie: Politik

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