geschlossenes Leninmausoleuum, Foto:explizit.net

Die Jugend in Russland begehrt auf

Die jungen Leute spüren, dass Korruption ihnen die Zukunft nimmt. Sie gehen in vielen russischen Städten auf die Straße. Im westlichen Beurteilungsschema „Gegen Putin“ passen die Protestaktionen jedoch nicht. Es ist auch das Erbe des Kommunismus, wie in der Ukraine oder in China. Hinzu kommen die negativen Erfahrungen mit der Ära Jelzin. Unser Moskauer Korrespondent zeigt auf, dass die junge Generation „den Vertrag mit den Regierenden“ bisher nicht unterschrieben hat.

Russland ist an die Korruption gewöhnt

Ein paar Tagen vor den Protestkundgebungen in Russland hat mir ein Freund den Film über Korruption in der Regierung gezeigt. Was dort über Dmitri Medvedev berichtet wurde, hat mich nicht überrascht. Ich wusste, dass es Korruption gibt, dort oben, hier unten. Das ist für mich ein Teil des Lebens, fast ein Schicksal. Das war schon immer so. Aus dem 19. Jahrhundert wird Folgendes erzählt: Ein seit langem im Ausland lebender russischer Schriftsteller fragt seinen aus Russland gekommenen Kollegen: „Wie geht es in Russland?“ Dieser antwortete „Man stiehlt“. Mehr noch, es schien, dass das alles auch so bleibt. Deswegen habe ich meinem Freund gesagt: Es wird sich nichts bewegen. Doch die junge Generation reagierte anders

Die junge Generation hat das Chaos der neunziger Jahre nicht erlebt

Ich habe ich mich geirrt. Es hat etwas bewegt. Leute gingen auf die Straße, um gegen Korruption zu protestieren. Eigentlich nicht viele – nur einige Tausend. Aber wichtig ist: Es gibt Leute, die es nicht hinnehmen, dass die Macht sich alles erlaubt und sich so benimmt, als ob das Land ihr gehörte. Obwohl es so wenig Leute waren, es könnte wirklich der Anfang einer neunen politischen Epoche sein. Die Stabilität ist für die Regierenden nicht mehr garantiert. Das besonders deshalb, weil der größere Teil der Protestierenden junge Leute waren. Die ältere Generation ist dem sozialen Vertrag mit der Macht treu geblieben. Nach diesem Vertrag werden ihnen ein bescheidenen Wohlstand und einige politische Freiheiten zugeteilt. Im Gegenzug geben sie der Macht einen Carte blanche. Die neue Generation hat diesen Vertrag  nicht unterschrieben. Sie erinnern sich nicht an die Zeiten der Perestroika und der neunziger Jahre. Im Vergleich zur Korruption damals und der Bereicherung einzelner kommt der jüngeren Generation die gegenwärtige Situation im Vergleich nicht mehr als Errungenschaft vor. Für die, die die neunziger Jahre erlebt haben, ist das jetzige Leben sehr viel besser. Denn wenn heute Machthaber stehlen, dann stehlen sie nicht, wie in neunziger Jahre alles, sie geben auch dem Rest der Bevölkerung etwas. 
Junge Leute aber wollen es nicht hinnehmen, dass diesen Machthabern überhaupt de facto erlaubt ist zu stehlen. Sie haben im Unterschied zur älteren Generation Präsident Putin nicht viel zu verdanken. Sie sehen nur, dass die Lage im Lande sehr viel besser sein könnte. Sie wollen etwas ändern. Was noch wichtiger ist, sie haben den Mut, das offen auf der Straße zu sagen, was fast alle denken. Sie vertreten nämlich die Mehrheit der Bürger, 84% der Bevölkerung wollen Korruption der Regierungsmitglieder nicht hinnehmen.

Russland wird keine Revolution erleben

Der Westen sollte sich keinen falschen Erwartungen hingeben. Es wird keine Revolution geben. Russland braucht auch keine. Besonders 100 Jahre, nachdem die korrupte Zarenregierung entmachtet wurde. Was darauf folgte, ermutigt nicht zu einer Wiederholung. Auch deshalb, weil die führende Persönlichkeit der Proteste, Alexei Navalniy, vielen nicht sympathisch ist. Auch waren diese Kundgebungen nicht gegen Putin gerichtet. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist Putin nach wie vor ein Symbol für Stabilität. Das bedeutet den Russen nicht wenig. Putin ist auch ein Symbol für Russland als Großmacht, die nach dem Zerfall der Sowjetunion zum Objekt der Ironie und des Mitleids wurde.

Die Proteste kündigen eine neue Phase russischer Innenpolitik an

Aber diese Kundgebungen haben gezeigt, dass weder die Regierung noch Putin selbst auf frühere Verdiensten setzen können. Die Macht ist zu weit gegangen und hat sich die Verachtung der Bevölkerung eingehandelt. Die Korruption dort ganz oben ist „so frech geworden“, dass die Menschen es als Affront und Beleidigung für diejenigen empfinden, die ihr tägliches Brot mit harter Arbeit verdienen müssen. 
Die Bürger haben angefangen zu sprechen. Sie haben ihre Botschaft an die Macht geschickt. Wie die Situation sich weiter entwickelt, hängt jetzt davon, ob diese Macht die Realitäten richtig einschätzt und ob sie bereit und fähig ist, sich selbst und das Land zu reformieren. Wenn sie aber zu Repressionen greift, wird sie selbst ein Urteil unterschreiben.


Kategorie: Politik

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