Fot: Logga Wiggler bei Pixabay

Vernetzt lernen

Lernen heißt, etwas im Gedächtnis zu speichern. Das geht am besten, wenn wir so lernen, wie unser Gedächtnis funktioniert. Das Gedächtnis ist sehr viel intelligenter konstruiert als ein Buch oder die von unserer Buchkultur abgeleitete Festplatte. Deshalb können wir so viel Wissen sehr viel effektiver zur Verfügung halten, weil unser Speicher sehr viel besser als eine Festplatte konstruiert ist.

Die Intelligenz kommt so ins Spiel, dass wir nicht einfach Inhalte speichern, sondern diese sofort verknüpfen. Wenn wir die Verknüpfung gehirn-gemäß anlegen, steht uns das Gelernte dann auch später zur Verfügung. Wie funktionieren die Gehirnzellen, die Neuronen, dass wir so effektiv lernen können, um z.B. ein Fahrrad zu reparieren oder die Erkenntnisse eines Philosophen nicht nur wiederzugeben, sondern auf neue Fragestellungen anzuwenden:

Das Langzeitgedächtnis ist auf Auskunft geben, Argumentieren und Handeln angelegt

Wenn wir etwas im Gedächtnis abspeichern, befördert unser Gehirn Inhalte vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis beruht darauf, dass an einem Ausläufer einer Nervenzelle einige Moleküle verändert werden. Wenn wir nämlich alles behalten, was wir gelesen, erlebt, gehört haben, würden wir unter der Menge der Daten den Überblick verlieren. Deshalb wird nur einiges gespeichert. Die Speicherung erfolgt anders als auf einer Festplatte, nämlich indem zwischen den Nervenzellen, den Neuronen, Verbindungen wachsen, Dendriten genannt. Da das Wachstumshormon nachts ausgeschüttet wird, "gibt es der Herr den Seinen im Schlafe." Also gehört der Schlaf notwendig zum Lernen, denn im Schlaf entsteht durch Vernetzung der Neuronen das Langzeitgedächtnis. Wenn wir uns klar machen, wie ein Buch und entsprechend eine Festplatte funktionieren, dann wird die bessere Konstruktion des neuronalen Gedächtnisses deutlich: 

Das Hirn legt Inhalte vernetzt ab

Das Buch reiht Inhalte hintereinander auf. Wenn ein Textabschnitt mit einer anderen Seite zusammenhängt, muss dies eigens angegeben werden. Von selbst vernetzt das Buch keine Inhalte. Genauso die Festplatte. Jeder Link muss eigens eingetragen und mit der URL der Datei versehen werden, die den Inhalt der ersten Datei erweitert. Was im Buch und in der am Modell Buch konstruierten Festplatte eigens verknüpft werden muss, macht unser Hirn organisch. Denn im Hirn wird ein Inhalt nicht einfach in einer der Milliarden Neuronen abgelegt, sondern Gedächtnis besteht in der Verbindung von Neuronen. Wenn das Lernen auf die Vernetzungsdynamik des Gehirns abgestimmt wird, dann besteht das Gedächtnis schon biologisch aus den durch die Dendriten vernetzen Neuronen. Um an das gespeicherte Wissen heranzukommen, muss man nur auf eines der Neuronen kommen, man braucht also nicht wie bei der Festplatte die Datei zu finden, sondern nur irgendwie in das Netzwerk hereinkommen. Hat man das Wissensgebiet vernetzt ablegt, bildet es sich sozusagen im Hirn vernetzt ab. Malt man sich die Vernetzung noch auf, dann führt einem diese Visualisierung zu den gespeicherten Inhalten. Unser Hirn ist so flexibel, dass man verschiedenen Wissenszusammen­hänge, z.B. wie ein Vergaser funktioniert, wie die Einkommenssteuer berechnet wird, wie der Mensch als Einheit von Körperlichem und Geistigen zu verstehen ist, speichern kann – immer als Zusammenhang von Informationsteilen, die das Hirn vernetzt ablegt. Deshalb muss man, ehe man sich schlafen legt, sich die Struktur des am Tag Gelernten vor Augen führen und die Beziehungen der Begriffe durchgehen. Für das philosophische Fachgebiet Anthropologie müssten zu „Körper“ und „Geist“ noch die Begriffe "Freiheit", "Person", "Empfinden", "Handeln" u.a. eingefügt werden. Diese werden am besten in Beziehung zueinander gesetzt.

Wissen und Handlungskonzepte vernetzt ablegen

Diese Strategie, gehirngerecht Wissen zu speichern, ist die beste Vorbereitung, um dieses Wissen in unterschiedlichen Situationen abzurufen. Ich greife nicht auf eine Datei zurück, sondern auf untereinander verknüpfte Begriffe, so dass ich mein Wissen entsprechend der Fragestellung abrufen kann. Dieses vernetzte Lernen verwenden wir im Alltag intuitiv. Wenn wir einen Artikel oder ein Buch gelesen haben, dann bauen wir den Inhalt nicht 1:1 in unser Gedächtnis ein, sondern koppeln das, was für uns neu war, an das vorhandene Wissen an, ob wir eine neue Ventilkonstruktion an einem Fahrradschlauch, eine Begebenheit aus dem Leben einer Person, eine neue Erkenntnis aus der Biologie oder ein Argument zu einer philosophischen Frage behalten wollen. Wenn wir so Neues mit Vorhandenem verknüpfen, dann "verlinken" wir in unserem Hirn nicht nur einmal die Information, sondern es wachsen mehrere Dendriten zu verschiedenen Neuronen. Mit dieser Strategie verankern wir das Gelesene nicht nur sehr viel effektiver, wir machen es auch von mehreren Neuronen aus zugänglich.

Auswendiglernen ist Prüfungs-riskant

Nun könnte man sagen, dass das für das normale Leben ja zutreffen mag, aber nicht für eine Prüfung. Die Professoren wollen doch möglichst den Stoff so hören, wie sie ihn gebracht haben. Also gehen die sicher, die die Vorlesungsmitschrift auswendig lernen. Wenn ich jedoch die Frage nicht einem Abschnitt, den ich auswendig gelernt habe, zuordnen kann, funktioniert mein Hirn nicht, dass es trotzdem den Gedächtnisinhalt findet. Denn Auswendiglernen besagt, dass Wortfolgen behalten werden, ohne dass ich jeweils die Bedeutung des Abschnitts gelernt und im Langzeitgedächtnis mit anderen Wissensinhalten vernetzt habe. Das funktioniert allenfalls, wenn es kaum Bücher gibt. Im Zeitalter von Facebook&Co muss ich jedoch das meiste, was auf meinem kleinen Bildschirm erscheint, schnell wieder vergessen. Da geht auch für die Prüfung auswendig Gelerntes „mit den Bach hinunter“. Hätte ich auf Verstehen gelernt, wäre das Wissen nicht bei Auswendiggelerntem abgespeichert, sondern hätte sich mit vorhandenem Wissen vernetzt. Auswendig lernen ist auch deshalb riskant, wenn ich eine Frage des Prüfers nicht verstehe, weil er nicht nach Inhalten fragt, sondern mein Verstehen hervorlocken will. Wenn ich dafür keine eigenen Worte habe, sondern mit meinem inneren Auge vielleicht noch den falschen Abschnitt ablese, kann ich die Frage nicht beantworten. Es gibt Prüfer, die erwarten, dass man ihre Gedanken mit ihren Worten wiedergibt. Denen kommt man entgegen, indem man die etwa 15 Begriffe, mit denen sie ihr Sachgebiet vorstellen, auswendig lernt und in den eigenen Antworten mehrfach einsetzt. Einige Kernsätze sollte man sowieso auswendig lernen. Mehr wollen diese Prüfer nicht.

Auf unvorhergesehene Fragen eingehen können

Habe ich aber mein Gedächtnis wie eine Festplatte „gefüttert“, kann ich nicht von mehreren Neuronen aus zugreifen. Denn Wissen auf einer Festplatte muss ich erst mal finden. Behandle ich mein Gehirn wie eine Festplatte, dann muss ich, wenn ich nicht gleich den Fundort weiß, suchen. Die Gefahr, dass ich es nicht finde, ist groß, ich reagiere dann mit Blackout. Habe ich jedoch neuronal gelernt, dann springt meine Aufmerksamkeit in das vernetzte Themenfeld und findet, so wie eine E-Mail im Internet nicht über eine bestimmte Verbindung ihren Adressaten erreicht, sondern mit der im Header eingebauten Adresse über irgendeinen Weg das Ziel ansteuert. Dazu eine Beobachtung, die noch einmal zeigt, dass unser Gehirn sehr viel besser auch für eine Prüfung konstruiert ist als eine Festplatte:

Das Begriffsumfeld hilft beim Erinnern:

Wenn wir den Namen einer Stadt hören, geschieht mehr als wenn wir die Buchstabenfolge bei Google-Maps eingeben. Bei Frankfurt denken wir an die Banken, an die Paulskirche, an Goethe, an die typische Gaststätte, in der wir waren. Bei "Insulin" denken wir an "Zucker", die Bauchspeicheldrüse, die Leber, an unsere Fettpolster. Bei Aristoteles u.a. Autoren, die in Prüfungen geisteswissenschaftlicher Fächer gewusst werden sollen, stellt unser Gehirn, wenn wir neuronal gelernt haben, die Verbindung zu typischen Begriffen des Autors her, so z.B. zu Metaphysik, Unbewegter Beweger, Form und Materie u.a. In dieses Netzwerk baue ich dann auch ein, worauf es dem Prüfer bei Aristoteles ankommt. Dann komme ich nämlich nicht nur von seiner Frage, sondern auch über andere Neuronen an die gespeicherten Formulierungen. Das ist auch deshalb sicherer, weil der Prüfer ja nicht die auswendig gelernte Vorlesungsmitschrift, sondern bestimmte Formulierungen hören will. Solche typischen Formulierungen haben ja auch Aristoteles u.a. Autoren geprägt, die ich genauso für die Prüfung nicht nur kennen, sondern auch wiedergeben sollte. Denn eine treffende Formulierung zu finden, sollte ich nicht unbedingt meiner Sprachkompetenz zutrauen, die im Prüfungsstress sowieso eingegrenzt ist, sondern mir eingeprägt und neuronal abgespeichert habe.

Lernen mit Konzept-Mapping

Das hier vorgestellte neuronale Lernen funktioniert erst einmal gedanklich. Für diesen Artikel z.B. müssen einige Begriffe in Beziehung gesetzt werden, so Neuronen, Dendriten, Kurzeit- und Langzeitgedächtnis, Festplatte, Vernetzung, Prüfung. Das wären auch die Keywords, die man in das Backend einer Homepage einträgt. Die werden am besten im Hirn so angeordnet, dass man Beziehungen herstellt, z.B. zwischen Dendriten und Langzeitgedächtnis.
Einfacher und auch kreativer wäre ein DINA3- oder ein noch größeres Blatt, auf dem man die Begriffe anordne. Man verbindet die Begriffe mit Pfeilen, in die man die Beziehung zueinander einträgt.

Aus dem bisher Verstandenen kann ich, ohne im Skriptum nachzuschauen, zwischen den Begriffen Beziehungen herstellen, aber meist nicht zwischen allen. Hier liegt dann das Kreativitätspotential: Ich kann jeden Begriff befragen, zu welchen der anderen Begriffe eine Beziehung besteht. Meist entdecke ich eine neue Beziehung, die mir den Stoff noch besser erschließt. Das kann ich gedanklich nicht so einfach. Hier hilft das Tableau mit den Begriffen

Effektives Lernen heißt nicht, ein Skriptum möglichst oft wieder lesen, sondern erst einmal das

  1. Herausfiltern der 5 bis 10 Begriffe bzw. Autoren eines Themenfeldes. Diese auf einer Fläche anordnen. Neben Begriffen können auch die Autoren, die man zu dem Themenfeld kennen muss, eingetragen.
  2. Die Begriffe und Namen werden untereinander verbunden. Dabei wird bereits deutlich, was ich im Skriptum oder im Internet nachschauen, nachlesen muss. Im
  3. Schritt überprüfe ich die Verbindungslinien zwischen den Begriffen bzw. der Linien von einem Autor zu einem Begriff. Gibt es noch keine Verbindungslinie zwischen zwei Begriffen, dann steckt dort evtl. ein interessanter Aspekt.
  4. Ich füge zu jedem Begriff bzw. Autor die Themen, die zu dem Begriff bzw. Autor gehören, hinzu. Hierfür lese ich nicht das ganze Skriptum, sondern suche die Seiten, wo ich die Unterthemen finde. Dieses gezielte Suchen führt direkter dazu, dass der gefundene Inhalt nachts ins Langzeitgedächtnis wandert. Denn ich verknüpfe ihn mit einer vorhandenen Struktur, so dass der Inhalt gleich mehrfach vernetzt wird.
  5. Ich blättere das Skriptum durch, um zu sehen, ob ein Begriff, ein Autor in meiner Begriffsstruktur fehlen. Bei Büchern nutze ich das Sachregister.

Es geht also um Struktur, die ich Schritt für Schritt durch Vernetzung der Neuronen in meinem Hirn aufbaue. Würde ich mehrmals das gleiche Skriptum durchlesen, würde ich die bereits begonnene Strukturierung wieder überdecken. Habe ich mir jedoch eine Struktur aufgebaut, dann schaue ich im Skriptum nur dort nach, wo ich das finde, was in meiner Struktur fehlt. Das behalte ich dann auch neuronal vernetzt, wenn ich den Informationsgehalt in meine Struktur eintrage. Das ist lange nicht so aufwändig wie Auswendiglernen.


Kategorie: Monatsthema

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang