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Von Afrika lernen

Interview mit Michael Wüstenberg: Seelsorger mit doppeltem Migrationshintergrund. Die Autorin Ursula Mühlberger besuchte den emeritierter Bischof Dr. Michael Wüstenberg in Hildesheim und war neugierig auf seine Erfahrungen in der pastoralen Arbeit in Südafrika, mit den sogenannten "Kleinen Christlichen Gemeinschaften".

Die Autorin Ursula Mühlberger besuchte den emeritierter Bischof Dr. Michael Wüstenberg in Hildesheim und war neugierig auf seine Erfahrungen in der pastoralen Arbeit in Südafrika, mit den sogenannten "Kleinen Christlichen Gemeinschaften". explizit.net dokumentiert das Interview - mit freundlicher Genehmigung.

Ursula Mühlberger: Könnte die Erfahrung aus dem Bistum Aliwal Impulse für die Entwicklung der deutschen Kirche geben?

Bischof Wüstenberg: Ich habe ja einen doppelten Migrationshintergrund. Manche lachen drüber, aber so ist es. Ich bin nach Südafrika gegangen, ich kannte nichts von der Kultur, der Sprache, warum Leute was machen, wie sie es machen, bis hin zum pastoralen Plan: “Community serving Humanity“, 1989 veröffentlicht. Ich musste kräftig umdenken. Jetzt komme ich nach Deutschland und erlebe eine Kirche, in die ich mich nicht einmal so richtig integrieren möchte. Hier wird zum Beispiel viel über Haupt- und Nebenamtliche gesprochen – das sind Begriffe, die für das Finanzamt interessant sein können. Die verantwortungsvolle Partizipation der „Ehrenamtlichen“ kommt mir viel zu kurz.

Wir in Südafrika denken überhaupt nicht in diesen Schienen. Wir sehen die Leute, die dort als „Leaders“ tätig sind, als Leute, die sich bewährt haben durch das, was sie in den Gemeinden tun, wo die Leute sie gerade durch die Kleinen Gemeinschaften kennen und sagen: den oder die wollen wir wirklich haben für einen ganz bestimmten Dienst. Die pastoral Mitarbeitenden sind „Facilitatoren“, Personen, die deren Handlungen oder Prozesse erleichtern und ermöglichen.

Ursula Mühlberger: Wie sieht das denn konkret aus? Wieviele kleine Gemeinschaften gibt es an den verschiedenen Orten?

Bischof Wüstenberg: In den größeren Orten gibt es etwa acht kleine Gemeinschaften. Sie sind das Rückgrat für alles: aus ihnen werden ein oder zwei Vertreter in den Pfarrgemeinderat gesandt. Da sie in ihren Gemeinschaften Rückhalt und Unterstützung haben, können sie wirklich Themen vertreten und das Besprochene auch wieder mitnehmen in ihre Gemeinschaft, dort diskutieren und beim nächsten Mal Ergebnisse mitbringen. Für mich ist das die einfachste Art und Weise, wie man Struktur in der Kirche leben kann.

Ursula Mühlberger: Wie hoch ist der Anteil der weiblichen „Leaders“?

Bischof Wüstenberg: Zwei Drittel der in der Diözese Aliwal beauftragten „Leaders“ sind Frauen. Sie sichern Zukunftswege im Glauben: relevante Lebensfragen werden aufgegriffen in der Versöhnungsarbeit, der Arbeit mit Randgruppen und für die Erhaltung der Schöpfung. Missbrauchte Frauen finden Zuwendung, wo Männer in der Begleitung eher hilflos sind.

Kirche im Prozess: Einübung ins Palaver

Ursula Mühlberger: Mich interessieren, auch vor dem Hintergrund der aktuellen Kirchenentwicklung hier in Deutschland die Erfahrungen im Prozess der Findung und Ausbildung der „Leaders“.

Bischof Wüstenberg: Entscheidend ist: die Leute mit auf den Weg zu nehmen, nicht von oben herab zu kommen. Das ist ein großes Problem, das wir hier haben: Wenn Vieles immer wieder von oben kommt. Der andere Weg, Menschen im Prozess mitnehmen, ist zeitaufwendiger, aber er lohnt sich.

Eine Sache habe ich in Südafrika gelernt: Die Bedeutung der Kommunikation auf Augenhöhe, des Palavers. Der Kapuzinermissionar Walbert Bühlmann hat das vor vielen Jahren beschrieben. Er kennt das Palaver aus dem ostafrikanischen Kontext: wenn die Nomaden sich aufmachen, dann müssen sie sich zusammensetzen.

Das Losziehen ist ein lebensgefährlicher Prozess, da müssen alle mitreden und ihre Bedenken äußern können. Am Ende kann man nicht sagen: die eine Hälfte bricht auf, die andere bleibt da oder so. Alle werden gehört und können sich einbringen und kommen am Ende zu einer Entscheidung: alle können mitziehen.

Im Palaver wird vorher alles gründlich besprochen. Das ist am Ende wesentlich konfliktfreier, als wenn von oben entschieden wird. In diesem Fall muss man im Nachhinein alles aufarbeiten, weil viele verärgert sind. Der Prozess ist dann leicht blockiert, weil Leute verletzt wurden.

Im Palaver werden Verletzungen vermieden; alle Ideen, auch spinnerte, dürfen geäußert werden. Und wenn gute „Facilitatoren“ dabei sind, ist das versöhnbar.

Ursula Mühlberger: Dem stimme ich zu. Auch in unserer Kirche, an den Tischen des Synodalen Weges, in der kirchlichen Öffentlichkeit wird es deutlich: es gibt lang anhaltende Wunden. Auf meine Frage: „was ist typisch katholisch?“ habe ich vor Jahren oft die Antwort erhalten: „Du darfst alles tun, nur nicht darüber reden“.

Bischof Wüstenberg:  Das ist nur als schizophren zu bezeichnen. Das ist ja sehr bequem und wir merken nicht, dass wir anders denken müssen, die Bude brennt ab...

Jesus positiv – Auf ein Mahl ändert sich alles

Ursula Mühlberger:    Das anders denken, aus der Transformation aus dem afrikanischen Kontext kommt ja auch anschaulich zur Sprache in dem Buch: „Jesus positiv. Auf ein Mahl ändert sich alles“, ein spannendes und ver-rückendes Buch. Wie kam es zu diesem Titel?


Bischof Wüstenberg: Mir ist an der eigenen körperlichen Erfahrung des Aids-Testes aufgegangen: Infizierung hätte Konsequenzen für die gesamte Lebensgestaltung. Und ich frage mich: Wenn wir uns durch die Eucharistie von Jesus „infizieren“ ließen, „Jesus positiv“ wären, welche Konsequenz hätte das für unser Leben? Was wird dann wichtig? Worüber denken wir dann nach? Was müssten wir ändern? Wie gehen wir dann miteinander um? Und wenn diese Fragen wichtig werden, was bedeutet es dann, dass die Eucharistie kaum noch gefeiert wird? Jesus hat sich durch das Lukas-Evangelium buchstäblich „durchgefressen“. An dem, was jeder Mensch kann, essen und trinken, hat er ganz viel deutlich gemacht: Wer darf dazukommen? Wie ist die Sitzordnung? Wer darf was tun? Bis hin zu der Frau, die zum Verdruss der Anderen Jesus salben durfte. Manchmal denke ich, dass diese Frau ein Sakrament der verschwenderischen Großzügigkeit nicht nur spendete, sondern war.

Sakrament der verschwenderischen Grosszügigkeit'

Ursula Mühlberger: Grosszügigigkeit scheint Ihnen wichtig zu sein.


Bischof Wüstenberg: Wenn man alles als Geschenk versteht und annimmt kann man damit umgehen und großzügig sein: Das ist mir deutlich geworden an Programmen der brasilianischen Kirche. In englische Sprache gefasst nennen sie die drei G´s: giftedness, gratitude, generosity: Diesen Dreischritt im Leben Jesu betont die Eucharistie: Er nahm etwas, was ihm gar nicht gehörte, er dankte dafür und gab es weiter, es war nicht für ihn alleine bestimmt. Überall dieselbe Bewegung, das bewegt mich: Das Bewußtsein, beschenkt zu sein, bis hin zu Aids, verändert alles: Die Aktivisten in Selbsthilfegruppen nicht nur für HIV/AIDS geben auch Zeugnis davon. Maja Göpel, eine bemerkenswerte Frau, denkt über eine andere Form von Wirtschaften und Transformation nach.

Und wie würde Wirtschaften vor dem Hintergrund der weltweiten Armutsproblematik aussehen, wenn wir mit diesem Bewusstsein hineingehen: beschenkt zu sein, dankbar, großzügig, statt dauernd die Gier zu bedienen?

Wenn wir Realpräsenz als Erfahrung ernstnähmen, wirklich Jesuspositiv zu sein, dann müsste das zum Tragen kommen: er nahm, dankte, brach, gab. Darum geht es, das hätte Konsequenzen, dann könnte sich manches verändern was für unveränderbar gehalten wird, und das nicht bloß in der Wirtschaft. Auch in der Kirche selbst. Und das hab ich ja bei den Leaders erlebt, wie Talente angenommen und großzügig gelebt werden.

Ursula Mühlberger:  Es geschieht ja auch schon. Allerdings haben sie jetzt in der Schweiz den Ärger, weil eine Frau die Wandlungsworte mitgesprochen hat.

Bischof Wüstenberg: Die Lippen älterer Menschen sprechen doch öfters die Wandlungsworte mit. Das war in Effretikon natürlich schon anders, provozierend. Dennoch: Da wurde der Finger in eine Wunde gelegt. Wenn es um die Eucharistie geht und ihr Fehlen die Leute ärgert, dann müssen wir als Diener der Freude doch etwas unternehmen. Jesus hat ja nicht gesagt: Wandelt! Betet vor dem Tabernakel an! Nehmt und esst! Hat er gesagt. Darum geht es, um diese Erfahrung. Und die ist gerade Menschen in ohnehin benachteiligten Ländern vorenthalten. Meine Erfahrungen geben mir die Zuversicht, dass gut vorbereitete Gemeinden unter den Talenten auch dafür geeignete Leute finden zu können. Leutepriester war ja einer der für sie vorgeschlagenen Begriffe.

Ursula Mühlberger: Ein vorläufiger Schluss-Punkt. Herzlichen Dank für das Gespräch.

Hintergrundinformationen:

Michael Wüstenberg ist derzeit im Ehrenamt als Seelsorger für die Malteser tätig, dort hat er im Rettungsdienst und Krankentransport bereits nach der Schule und während des Zivildienstes gearbeitet. 2021 nahm er an der Überführung des Rettungsschiffes „Sea-Eye4“ von Deutschland nach Spanien teil. Als Priester ging er 1992 nach Südafrika und war nach der Ernennung durch Benedikt XVI. von 2008 bis 2017 Bischof im Bistum Aliwal mit circa 15.000 Katholiken. Im Oktober 2022 ist sein „Kompass Urkirche“ erschienen: „Überraschendes aus der Apostelgeschichte für christliche Gemeinden heute“.

Zuvor im Selbstverlag: „Jesus positiv. Auf ein Mahl ändert sich alles. Afrikanische Annäherungen an das eucharistische Abendmahl“.


Kategorie: Kirche Junge Feder

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