Foto: Gordan Horvat/Pixabay (Symbolbild)

Taizé stellt sich sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen

In der Mönchsgemeinschaft im burgundischen Taizé ist es zu sexuellem Missbrauch gekommen. Unser Autor Matthias A. Schmidt war zufällig dort, als die Brüder darüber informierten.

Taizé, Freitag, 18. Oktober, zehn Minuten nach 10 Uhr im Erwachsenenzelt. Die Bibeleinführung für die über 30-Jährigen beginnt heute verspätet. Vor der Bühne scheint der Bruder noch irgendetwas mit den freiwilligen Übersetzerinnen unserer Gruppe zu besprechen. Dann stimmt er ein Lied an. In den letzten Tagen hatte er die Gruppe stets mit einem schelmischen Lächeln und seinem trockenen britischen Humor erheitert. Jetzt blicken wir in seine versteinerte Miene.

„Wir beginnen heute mit ernsten Neuigkeiten“, fängt er an. Bereits im zurückliegenden Sommer habe es Anschuldigungen gegen drei Brüder der Gemeinschaft gegeben, sie betrafen mehrere Fälle sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige. Die Taten fielen in die Zeit der 1950er bis 1980er-Jahre. Zwei der drei beschuldigten Brüder waren inzwischen verstorben. Der Prior der Gemeinschaft von Taizé, Frère Alois Löser hatte im Juni und Juli dieses Jahres öffentlich schriftlich darüber informiert und seine Ansprechbarkeit signalisiert.

Geistlich, psychologisch und sexuell missbraucht

Kürzlich habe nun eine Frau, ihm, Frère Alois, anvertraut, dass ein Bruder der Gemeinschaft sie über mehrere Jahre hinweg in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht habe. Die Frau beschuldige den Bruder, sie seit 2003 bis Mitte 2019 geistlich, psychologisch und sexuell missbraucht zu haben. Frère Alois habe daher die Polizei eingeschaltet, diese habe den beschuldigten Bruder am Tag zuvor abgeholt. Er befände sich in Polizeigewahrsam und werde gegenwärtig vernommen.
Der Bruder, der unsere Bibeleinführung gestalte, bittet uns, diese kurze Information zunächst vertraulich für uns zu behalten. Alle, die sich aktuell in Taizé aufhielten, würden im Laufe des Tages informiert. Allerdings sei die Information noch nicht öffentlich. Wer Fragen stellen wolle oder Redebedarf habe, könne dies bei zwei Gruppentreffen mit einigen Brüdern am Nachmittag tun. Außerdem stünden mehrere Geistliche, eine Pfarrerin und psychologische Fachkräfte bei Bedarf für Einzelgespräche zur Verfügung.

Karfreitag – Herausforderung für die Gemeinschaft

Der Bruder geht zur Bibeleinführung über. In Taizé wird jedes Wochenende Ostern gefeiert, daher ist heute, Freitag, der Karfreitagstext aus dem Johannesevangelium dran. Der Bruder gibt einige Hinweise zur Kreuzigung Jesu, zu seinen letzten Worten und dem Verhalten der Jünger. Ich höre darin vor allem eine Deutung der aktuellen Situation in Taizé. Der Verrat des Judas habe die Gemeinschaft zerbrechen lassen, habe die Gruppe der Jünger gespalten, sie seien davongelaufen. Unter dem Kreuz aber, da wo keine Worte mehr sinnvoll seien, harrten einige Frauen und Johannes aus, blieben bei Jesus. So sei in dieser schwierigsten Stunde, unter dem Kreuz, die Gemeinschaft neu möglich geworden. Im Gesicht und der Stimme des Bruders meine ich, seinen Schmerz lesen zu können.
Nach der Bibeleinführung ist keinem aus meiner Kleingruppe danach, den Bibel-Text durchzugehen und sich über die vorgeschlagenen Fragen auszutauschen. Wir gehen einen Kaffee trinken. Die Stimmung ist gedrückt. Der Journalist in mir fragt sich: Warum teilen die Brüder uns diese Information mit, aber keine Details, keinen Namen? Wird das nicht die Gerüchteküche anheizen? Wie soll diese Information hier in Taizé bleiben? Warum vertrösten sie uns mit unseren Fragen auf den Nachmittag und machen weiter mit dem Programm wie gehabt. Beim Mittagsgebet kann man die Verzweiflung und den Schmerz in den Gesichtern vieler Brüder ablesen.

Wir vertrauen Euch, wir brauchen Euch

Am Nachmittag werden unsere Fragen beantwortet. Etwa 50 von rund 600 Gästen dieser Woche sind gekommen, vom Alter ab 20 aufwärts. Im Gespräch mit zwei Brüdern wird schnell deutlich, warum sie uns am Morgen informiert haben. Sie wollen uns ihr Vertrauen signalisieren. Wir bildeten schließlich jetzt, in dieser Woche, wo auch die Brüder selbst von dem Fall erfahren haben und betroffen sind, eine Gemeinschaft mit den Brüdern vor Ort. Sie wollten unbedingt vermeiden, dass wir am Sonntag zurück nach Hause fahren, um erst dann aus den Medien zu erfahren, dass ein Bruder wegen dieser Anschuldigungen von der Polizei abgeholt wurde, während wir in Taizé waren. Wir brauchen Euch in dieser Situation, wir vertrauen Euch.
In der Kommunität der Brüder scheint mit den Vorwürfen aus dem Sommer ein tiefgehender Reflexionsprozess angestoßen zu sein. Das wird aus Berichten der Brüder deutlich: Wie gewährleisten wir Sicherheit für alle Teilnehmenden und Gäste in Taizé? Wie achten wir aufeinander in der Gemeinschaft? Wie vermeiden wir, wie spirituelle Meister wahrgenommen zu werden? Die Brüder gehen eine Stunde lang auf alle Fragen ein. Ihre Offenheit und Klarheit beeindrucken. Sie unterscheiden zwischen der juristischen Ebene und einer moralischen Ebene. Ob der Bruder sich strafbar gemacht habe, müssten die Polizei, die Staatsanwaltschaft entscheiden. Ihrer Einschätzung nach sei aber ziemlich klar, dass das Verhalten des beschuldigten Bruders, nach allem, was sie wüssten, den Werten und der Lebensweise ihrer Communauté derart widerspreche, dass er jedenfalls nicht in die Gemeinschaft zurückkehren könne. Dass sie keine weiteren Details preisgeben, sei vor allem im Sinne und auf Bitten der Polizei. Sie würden ihren Bruder aber nicht als Mensch fallen lassen und ihn einfach ausstoßen, das sei auch wichtig.

Kein Victim-Blaming

Einigen Fragen zur Glaubwürdigkeit der betroffenen Frau begegnen die Brüder so eindeutig wie diplomatisch: Wie könnt Ihr Euch sicher sein, dass die betroffene Frau nicht lügt? Hat die Frau nicht vielleicht auch einen Anteil von Schuld an den Vorfällen? Die Brüder reagieren eindeutig: Der Prior, Frère Alois habe nach den Schilderungen der Frau und angesichts einiger „verstörender Elemente der vergangenen Zeit“ die Behörden eingeschaltet. Also müsse das Zeugnis, die Schilderungen der Betroffenen glaubwürdig gewesen sein. Eine junge Teilnehmerin und die Brüder sprechen sich auch eindeutig gegen ein eventuelles „victim blaming“ aus, eine womögliche „Mitschuld“ der Frau an dem von ihr geschilderten Abhängigkeitsverhältnis zu dem beschuldigten Bruder.

Jeder in Taizé muss sich weiter frei fühlen können

Die Gemeinschaft will an dem Prinzip festhalten, das aus ihren Gründer, Frère Roger, zurückgeht: Jeder und jede in Taizé müsse sich absolut frei fühlen können. Das sei auch weiterhin der Anspruch der Gemeinschaft. Sie dankten den Teilnehmenden für ihre offenen Fragen und für unser Vertrauen. Sie selbst und weitere, von der Kommunität unabhängige Geistliche sowie Psychologen standen weiterhin für Gespräche zur Verfügung. Der offene, transparente und vor allen Dingen proaktive, vorausdenkende Umgang der Gemeinschaft mit dem Thema Missbrauch hat mich beeindruckt. Ich finde das Verhalten der Brüder vorbildhaft und wegweisend.

Vermeintliche Zustimmung als Teil des Missbrauchs

Für mich wird in der Reflexion ein weiterer Aspekt deutlich: Gerade der lange Zeitraum des geschilderten Missbrauchs deutet darauf hin, dass es sich wohl nicht um eine gleichwertige, symmetrische, konsensuelle Beziehung gehandelt hat. Ähnlich wie in einer Ehe oder Partnerschaft, in der eine*r der Partner*innen Gewalt ausübt, kann sich der*die andere Partner*in gerade nicht einfach daraus lösen, denn die eigenen Gefühle von Schuld, Scham und oftmals Zuneigung oder Liebe sind häufig besonders stark. Das Gefühl, selbst schuld zu sein, oder den Übergriff selbst gewollt oder ihm nicht ausreichend widersprochen zu haben, sind systemischer Teil des Missbrauchs und nicht selten Teil der Täterstrategie.

Link: Lesen Sie zu Taizé auch von Matthias Alexander Schmidt: Als Millennial in Taizé


Kategorie: Kirche explizit.net

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