Das Statement des Kardinals macht deutlich: Die katholische Kirche scheint sich immer noch nicht im Klaren, was eigentlich die Wurzel des Missbrauchs ist. Kardinal Müller ortet die Ursache in der Homosexualität. Die besagt aber erst einmal nur, dass Männer sexuelle Anziehung gegenüber Männern, Frauen gegenüber Frauen empfinden. Daraus folgt nicht, dass homosexuelle Männer notwendig auf junge Männer, Jugendliche, Kinder fixiert sind.
Aus Homosexualität folgt nicht automatisch Missbrauch
Wenn der frühere Präfekt der Glaubenskongregation sich so uninformiert zeigt, dann dürfte das für weitere Verantwortliche in der Kirche auch zutreffen. Dabei gibt es die Möglichkeit, sich einfach zu informieren, ob bei dem Institut der Gregoriana-Universität in Rom oder bei der Charité in Berlin. Aber es würde mit etwas mehr Logik auch gehen. Denn eine sexuelle Orientierung auf Kinder hin gibt es nicht nur bei homosexuellen Männern. Vielmehr sind die meisten Opfer Mädchen, meist missbraucht von heterosexuellen Männern, nicht von Frauen. Und es gibt auch bei Frauen eine Orientierung an Kindern, Jungen wie Mädchen.
Homosexualität nüchterner sehen
Warum aber diese Fixierung auf Homosexualität? Dass diese sexuelle Orientierung für andere emotional erst einmal schwierig ist, könnte man noch verstehen. Aber wenn ein Kardinal, der ein so wichtiges Amt in der Kirche bekleidet hat, und dessen vatikanisches Ministerium für die Missbrauchsfälle zuständig ist, so undifferenziert an die Presse geht, lässt das starke Zweifel aufkommen, ob die Würdenträger ihre Verantwortung wahrnehmen. Nun ist das, wie von Therapeuten zu erfahren ist, kein Problem der Kirche allein. Die Lindauer Therapiewochen sollen dieses Thema nicht aufgegriffen haben. Das ist unerklärlich, denn in den Praxen der Therapeuten müssen doch Frauen und auch Männer aufgetaucht sein, die als Kinder missbraucht worden sind.
Es gibt zwar keine Erklärung, wie eine homosexuelle Orientierung zustande kommt, aber es gibt sie als biologisch-psychologische Vorgabe, die der Betroffene nicht ändern kann. Deshalb sollte ein früherer Theologieprofessor, der sich als Kardinal auf der ganzen Welt hätte Rat holen können, nicht so naiv urteilen. Vor allem muss er wissen, dass mit der Aussperrung von Priestern mit homosexueller Orientierung das Problem des Missbrauchs nicht gelöst ist. Denn:
Missbrauch ist erst in zweiter Linie sexuell motiviert
Ein überraschende Beobachtung ist von denen zu hören, die mit der Aufarbeitung des Missbrauchs zu tun haben: Es ist bei Vielen nicht zuerst die sexuelle Orientierung, sondern Ausübung von Macht. Macht erklärt auch eher, warum Missbrauch von Abhängigen und nicht Sexualität mit Erwachsenen. Vielleicht hat der Papst mit seiner Kritik am Klerikalismus gar nicht so Unrecht. Wenn es tatsächlich um das Gefühl von Macht geht, das sich der Überlegene über den Weg der Sexualität holt, dann liegt doch das Problem nicht in der sexuellen Orientierung. Sicher bedarf es noch intensiver Forschungsarbeit, den Missbrauch zu verstehen. Aber ohne eine tiefgehende Diagnose gibt es auch keine Heilung. Das hilflose Herumagieren mit Verdächtigungen eines Kardinals, der einmal oberster Glaubenswächter war, die ausbleibende Reaktion der Kollegen im Bischofsamt, das Warten auf den Papst zeigt wieder einmal, dass die katholische Kirche dem Problem nicht gewachsen ist. Der jetzige Problemstand kann so umschrieben werden:
Die sexuelle Orientierung auf das kindliche Körperschema entsteht irgendwann in der Pubertät. Anders als früher gedacht, ist diese Orientierung nicht umprogrammierbar. Deshalb führt weder die Rückführung auf den Zölibat noch auf Homosexualität zu einer Lösung. Das Schema bleibt und ist wahrscheinlich bei Heterosexuellen sehr viel mehr verbreitet. Es ist davon auszugehen, dass viele verheiratete Männer weiterhin von diesem Schema geprägt bleiben, so dass auch Sexualität mit Erwachsenen nicht zu einer Umprogrammierung führt. Deshalb sollten Kardinal Müller und andere aufhören, Homosexuelle generell zu verdächtigen.
Warum aber dann die Orientierung auf Jungen bei Priestern
Eine mögliche Antwort erhielt der Autor von jemandem mit langer Erfahrung in der Jugendarbeit: Mädchen verhalten sich sehr viel distanzierter als Jungen. Das hieße dann, dass gerade im kirchlichen Kontext die Jungen zugänglicher sind. Und das sollte doch der Kardinal, der weniger für Sexualität als für Theologie zuständig war und immer noch ist, als seine Aufgabe sehen:
Warum Missbrauch gerade in der Katholischen Kirche
Es geht nicht nur um den einzelnen Kleriker, der sich strafbar gemacht hat, sondern um die Institution. Deutlich geworden ist die Tendenz zur Vertuschung. Die gibt es aber beim Sport und wohl auch in der evangelischen Kirche genauso. Es muss einen spezifisch katholischen Faktor geben. Da die Katholische Kirche eine von einem Konzil verabschiedete Vorstellung verfügt, was Kirche sein soll und wie ihre Strukturen sind, müsste man doch einmal nachschauen, ob die Lehre des Konzil missverstanden wurde oder ob sie ergänzt werden muss. Auf Missverständnis deuten die Missbrauchszahlen hin. Diese waren in den siebziger Jahren am höchsten. Das kann mit der von den Achtundsechzigern ausgerufenen sexuellen Befreiung zu tun haben. Es könnte aber auch vom gesamten Duktus des Konzils nahegelegt worden sein. Weil man sich von der überkommenen, auf Disziplinierung angelegten Verkündigung verabschieden wollte, wurde der Mensch wahrscheinlich zu optimistisch gesehen. Man ist wohl auch dem modernen Missverständnis aufgesessen, Sexualität sei ein Recht, das jederzeit ausgeübt werden kann.
Was die Gläubigen wie die Priester von den Bischöfen erwarten dürfen: eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Problem. Denn so Kardinal Müller: die Bischöfe haben das letzte Wort und können als Träger der Wahrheit nicht von außen beurteilt werden. Man kann nur hoffen, dass zuerst einmal die Kardinäle die Kirche auf den Stand der heute möglichen Diagnose bringen. Denen, die die Verantwortung tragen, ist doch die Empfehlung des Papstes im Ohr, nämlich die Gabe der Unterscheidung. Die ist in dem Statement des Kardinals nicht zu erkennen. Die Katholiken brauchen für ihre Orientierung keine Polemik, sondern, zumal es die Kirche und ihr Leitungspersonal selbst betrifft, einen kritischeren Umgang mit sich selbst in den Leitungsämtern.
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