Foto: explizit.net V.P.

Ukrainer und Russen – der Mythos von Brudervölkern

Komplexe und widersprüchliche Beziehungen zwischen Russland und Ukraine sind in eine allumfassende Krise gemündet. Sie ist nicht erst 25 Jahren alt. Dieses mühsame Ringen darum, wie man miteinander oder zumindest nebeneinander leben kann, begann nicht erst nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Jedes Volk hat seine Mythen. Einige haben nur etwas mehr davon. In der Sowjetzeit glaubten die Russen, dass sie von allen Völkern der Welt geliebt sind, besonders von den Osteuropäern, da wir sie befreit und noch dazu mit allen Gütern des Kommunismus beschenkt hatten. Deswegen war es für uns eine böse Überraschung, als wir einen Soldaten, der gerade aus Ungarn zurückgekehrt war, in die Schule eingeladen hatten. Er erzählte uns, dass sie dort nicht so willkommen gewesen waren wie wir dachten. Das war 1986. Etwas später haben wir auch erfahren, warum es so war. Mit dem Zerfall der Sowjetunion selbst mussten wir noch etlichen Mythen. mit denen wir groß geworden waren, „Lebewohl” sagen.

Der Mythos vom Brudervolk blieb intakt

Wenn auch ziemlich viele Mythen zerstört wurden, sollte einer noch ein Vierteljahrhundert weiter wirksam bleiben, der über die Bruderschaft des Russischen und Ukrainischen Volkers. Auch wenn wir daran gewohnt waren, uns von alten Mythen zu befreien, hat dieser Verlust uns deshalb so hart getroffen, weil er zum Kernbestand unserer nationalen Identität gehörte. Von Kindheit an hatten wir gelernt, dass wir ein Volk sind, begann doch unsere Geschichte in Kiew, unserer erste Hauptstadt. Als die Ukraine Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ein Teil des neuen russischen Staates mit der Hauptstadt Moskau wurde, galt das nur als eine Wiedervereinigung der Teile eines Staates und eines Volkes. Was die Ukrainer selbst darüber dachten, das wussten wir nicht, auch wenn es nicht so schwer war, dorthin zu fahren und sich mit den Leuten zu unterhalten.

Historischer Rückblick: Moskau zieht die orthodoxen Gläubigen des litauisch-polnischen Reiches an

Nach der Aufteilung der ehemaligen Kiewer Rus zwischen dem mongolischen und dem litauisch-polnischen Reich gingen die in verschiedenen Staaten lebenden Völker bereits unterschiedliche Wege. 
Als Russland aus dem Mongolischen Reich hervorging, hatte es keine Zeit, um einen nationalen Staat nach dem Vorbild anderer europäischer Völker zu formen. Aus dem kleinen Fürstentum, das erst Ende des 15. Jahrhunderts seine Unabhängigkeit errungen hatte, wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts mit Einverleibung der jetzt zersplitterten tatarischen Khanate ein riesiges Reich. Die Expansion ging auch gen Westen, wo orthodoxe Untertanen der jetzt katholisch gewordenen polnischen und litauischen Herrscher einem Staat mit ihren Glaubensgenossen zuneigten, also im Moskauer Reich leben wollten. 
Das ist einer der Gründe, warum der erfolgreiche Anführer einer Kosakenrevolte, Bogdan Chmelnitsky, der russischen Regierung einen Vertrag angeboten hat, nach welchem die Ukraine ein autonomer Teil von Russland werden sollte. Aber schon damals waren nicht alle mit der Ausrichtung nach Moskau einverstanden. Nach vielem Hin und Her der innerukrainischen Streitigkeiten wollte ein Teil der Kosaken zu Russland gehören, ein anderer aber im polnischen Reich bleiben, wo sie für sich mehr Freiheit erhofften. Die Ukraine wurde dann unter Polen und Russland aufgeteilt. 
Während des Krieges zwischen Russland und Schweden Anfang des 18. Jahrhundert hat ein Teil der Kosaken den schwedischen König unterstützt. Der Anführer dieser Kosaken wurde von den Russen verhaftet und hingerichtet.

Beginnender ukrainischer Nationalismus

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich vor allem in der Westukraine eine ukrainische Identität. Die Anführer strebten einen unabhängigen Nationalstaat an. Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 entstand am Ende des ersten Weltkrieges für kurze Zeit eine ukrainische Republik. Aber schon 1920 wurde sie von der Roten Armee besetzt. 1921 fiel durch den Frieden in Riga die Westukraine an Polen. Aus der Zentral- und der Ostukraine wurde die Sowjetrepublik „Ukraine“ gebildet.In den Jahren des Zweiten Welt Krieges begrüßten viele Ukrainer, besonders im westlichen Teil des Landes, die anrückenden deutschen Truppen.
Nach 1945 blieb die Ukraine Teil der Sowjetunion. 1945 schenkte ihr Parteichef Nikita Chruschtschow anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Russisch-Ukrainischen Einheit die Krim.

Wachsende Distanz führt zur Auflösung des Mythos

Nach dem Zerfall der Sowjet Union waren die Beziehungen zwischen Russland und Ukraine immer angespannt. Die Ukraine ging von Anfang an auf Distanz zu ihrem östlichen Nachbar. Sie trat damals nicht dem kollektiven Sicherheitsvertrag der GUS bei und lehnte auch die Mitgliedschaft in der Euroasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft ab. Problematisch war, dass die ukrainischen Regierungen immer Europa gegen Russland und umgekehrt ausspielten, um von beiden Seiten Unterstützung und finanzielle Mittel zu bekommen. Das Gleiche, was jetzt der Präsident von Weißrussland, Alexander Lukaschenko versucht. 
Seit 1994 ist über den russisch-ukrainischen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft verhandelt worden. Aber drei Jahre lang konnte man zu keiner Einigung über die Unverletzbarkeit der Grenzen und die Sicherheitsfragen kommen. Der Hauptgrund dafür war der Status der Halbinsel Krim. Der Oberste Rat Russlands ratifizierte erst Ende Dezember 1998 den bereits am 30.Mai 1997 von Jelzin und Kravcjuk unterschriebenen Vertrag, jedoch mit dem Vorbehalt einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO.

Die Richtungskämpfe in der Ukraine

Die Komplexität der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland war teilweise durch die Komplexität der Lage in der Ukraine selbst bedingt, wo es Meinungsverschiedenheiten gab, ob man ein Teil Russlands, Teil Westeuropas oder völlig unabhängig sein wollte. Aus der Sicht der russischen Regierung war die Ukraine ein natürlicher Teil des Russischen Reiches. Gebiete, die seit dem Zerfall der Kiewer Rus verloren gingen, waren wieder im Russischen Reich zusammengesammelt worden. In Russland betonte man stets die ethnische und kulturelle Einheit der Ostslawen – Russen, Weißrussen und Ukrainer, die auch tatsächlich gemeinsame Wurzeln haben. Die Ukrainer dagegen haben sich als ein unabhängiges Volk verstanden. Und was dachten Russen darüber? Die meisten Russen haben immer daran geglaubt, dass das Moskauer Reich eine Fortsetzung der Kiewer Rus sei, nur eben mit einer anderen Hauptstadt. Die Moskauer Rus wurde als Groß-Russland, die Ukraine dagegen als Klein- Russland bezeichnet. Mit Weißrussland ist für die Russen die Ukraine einer der drei Teile eines Staates und eines Volkes. Eine Umfrage unter Russen aus dem Jahr 1997 ergab, dass 56% der Russen die Russen und die Ukrainer für Angehörige eines Volkes halten. Eine Ausnahme in diesem Hinsicht stellte Galizien dar, das seit dem Zerfall der Kiewer Rus schon immer ein Teil des katholischen Europas war, aber gleichzeitig mit dem Fürstentum in Nord-Osten des Kiewer Rus, einem Kerngebiet des künftigen Groß-Russland, um die Herrschaft in Kiew selbst rang. Als die Ukrainer ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickelten, wurde das in Russland ausgeblendet. In Russland hat man immer geglaubt, dass die Ukrainer nichts anderes wollen als mit den Russen in einem Staat zu leben.

Die Sowjetunion stand auf den Fundamenten des Moskauer Reiches 

 

Das russische Konzept der Geschichte wurde von der Sowjet-Union übernommen und durch den Geschichtsunterricht in der Schule der Bevölkerung vermittelt. Man kann darüber streiten, inwieweit dieses Konzept der historischen Wirklichkeit entspricht, problematisch war aber, dass den Russen nicht die Vorstellung vermittelt wurde, wie die Ukrainer sich selbst sehen. Es scheint, dass nicht nur einfache Russen daran geglaubt haben, dass sie mit der Ukraine ein Volk bilden. Die politische Elite war auch von diesem Gedanken geprägt. Das wirkte bis in die Zeit, als die Sowjet-Union zerfiel. Man kann natürlich vermuten und aus russischer Sicht hoffen, dass die Regierung in Russland ihre Politik gegenüber der Ukraine auf die Verteidigung der Interessen Russlands gegründet hat. Das scheint aber nicht der Fall, vielmehr ist die Politik seit den neunziger Jahre von dem Glauben an die Bruderschaft des russischen und ukrainischen Volkes bestimmt. 
Russland, das ist die politische Elite wie auch die Bevölkerung, müsste begreifen, dass Russland nicht ein Teil eines wie immer mythischen Drei-Völker-Staates, sondern selbst ein nationaler Staat mit eigenen Interessen ist. Russland hat seit der Eingliederung von Tatarstan Mitte des 15. Jahrhunderts immer als ein Reich existiert. Deswegen tat sich Russland so schwer, nach dem Zerfall der Sowjet Union seine eigenen Interessen zu identifizieren, zu artikulieren und angemessen zu vertreten. 
Gleichzeitig kann man sagen, dass der Abschied von dem Mythos des einen Volkes der Ukrainer und Russen bereits in den neunziger Jahren begonnen hatte, aber eben sehr, sehr langsam. Russland hat in dieser Zeit Gas und Öl an die Ukraine zu relativ niedrigen Preisen geliefert und als Bezahlung nicht einmal Geld, sondern irgendwelche Industriegüter oder Militärflugzeuge entgegen genommen, während entsprechende Fabriken in Russland stillstanden, weil sie keine Aufträge bekamen. Ein Grund für dieses irrationale Verhalten der Regierung in Moskau war nicht nur die geopolitische Strategie und der Wunsch, die Ukraine im Einflussbereich Russlands zu halten. Die russische Elite hat sich selbst mental nicht von dem Mythos der “Brudervölker” verabschiedet und deswegen behandelte sie die Ukraine genauso wie eine russische Provinz. Für sie war es noch kein eigenständiges Land. Einfache Leute fühlten ein wenig Unbehagen dabei, aber es war zu dieser Zeit nicht das größte Problem Russlands. Außerdem wollten wir uns nicht von diesem Mythos von fast einem Volk und fast einem Staat trennen. Die Veränderung der Einstellung zur Ukraine ging in Russland mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der Russen und ihrer Regierung einher, die langsam begriffen, dass sie ihre eigenen Interessen haben.

Reale Verwandtschaften

Aber es war nicht alles auf einer Mythologie gebaut. Wenn man auch nicht von den “Brudervölkern” sprechen kann, dann darf man die vielen „Brüder und Schwestern“ nicht vergessen, die aus den gemischten Ehen stammen, oder einfach von den Angehörigen einer Familie, die in den beiden Staaten leben. Man darf auch nicht die engen wirtschaftlichen Beziehungen vergessen, die Leute aus den beiden Staaten zwangsweise zueinander gebracht haben. 
Was nach dem Umsturz der Regierung in Kiew in den Beziehungen zwischen beiden Ländern geschah, war unfassbar und unverständlich. Etwas völlig Unmögliches ist wahr geworden – Russen und Ukrainer haben angefangen, auf einander zu schießen! Ob daran die ukrainische Regierung oder die russische Regierung, die USA, ukrainische oder russische Nationalisten schuld waren, ist eine Nebenfrage, auf die verschiedene Leute verschiedene Antworten geben.

Wenn die wirtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern fast abgebrochen sind, geht das mit den menschlichen Beziehungen nicht so schnell. Letzthin ist in Moskau eine Frau nach dem Gottesdienst zu dem Priester gekommen und hat um den Segen gebeten – sie will in die Ukraine fahren, um ihre Verwandten zu besuchen. Sie habe Angst vor der Reise, aber sie müsse das tun. Dort lebe doch ihre Familie.



Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Zum Seitenanfang