Majdan-Platz der Revolution, Foto: explizit.net

Ukraine: Postsowjetische Zivilgesellschaft

Die heutige Ukraine ist durch Bürgerproteste zwischen November 2013 und Februar 2014 initiiert. Der Aufbau einer solchen, von den Bürgern getragenen Demokratie ist langwierig und stößt auf viele Hindernisse. Die Ukraine ist in vielen Punkten weiter als es in einer Berichterstattung durchdringt. Über die notwendigen Schritte von einer sowjetischen in eine Zivilgesellschaft werden wir nicht ausreichend informiert. Mariia Karapata beschreibt den Stand der Entwicklung.

Nach der „Revolution der Würde“ 2013-2014 haben sich die grundlegenden Veränderungen in der Ukraine vollgezogen: von Regierungsspitze bis zum Alltag der Menschen. Motor der Veränderung ist die ukrainische Zivilgesellschaft, die sich in kurzer Zeit gebildet hat. Das unterscheidet die Ukraine von Russland. Dort wird das Entstehen einer Zivilgesellschaft massiv behindert. Im Folgenden wird beschrieben, welche Organe, Gremien und Strategien in der Ukraine gebildet wurden.

Entwicklungsschritte hin zu einer aktiven Bürgerschaft

Die Herausbildung einer aktiven Gesellschaft, die Einfluss nehmen will, wurde durch Hilfe aus dem Ausland und entsprechende Aufstockung der Projektmittel unterstützt. Bedeutender ist der ukrainische Patriotismus, der einen eigenständigen Staat als Mitglied der europäischen Völkergemeinschaft will. Die militärische Aggression Russlands hat diesen Patriotismus und die Bereitschaft bestärkt, die Zukunft des Landes selbst in die Hand zu nehmen. Das Ukrainische, vor allem Sprache und Literatur, haben eine zentrale Bedeutung gewonnen. Diese Voraussetzungen haben zu der Entwicklung einer kraftvollen Zivilgesellschaft geführt. Sie hat sich Gehör verschafft und ein Umfeld geschaffen, das die Realisierung der gesteckten Ziele ermöglicht. Sie kann nach jetzt drei Jahren erste Ergebnisse vorweisen. Die Zivilgesellschaft ist in drei Bereichen aktiv:

  1. Zusammenarbeit mit der Regierung
  2. Kritische Beobachtung des Regierungshandelns 
  3. Weiterer Aufbau der Zivilgesellschaft für Bereiche außerhalb des staatlichen Handelns. 

Einfluss auf die Personalentscheidungen des Staates

In den letzten drei Jahren wurde die Reformimplementierung fast in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens der Ukraine vorangetrieben. Die Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen haben sich aktiv beteiligt, indem sie für alle Bereiche ihre fachliche Beratung eingebracht haben. Sie haben die Umsetzung der 2014 zugesagten Reformen begleitet und kontrolliert. Unter den wichtigen Akteuren waren sowohl die Nichtregierungsorganisationen, die schon seit Jahrzehnten tätig sind und im Zentrum für politische und rechtliche Reformen, dem Razumkov-Zentrum sowie dem Ukrainisches unabhängiges Zentrum für politische Forschungen zusammenarbeiten. Es haben sich auch weitere Gremien gebildet. Besonderen Einfluss erlangte die Bildung einer Koalition von gesellschaftlichen Organisationen – das Reanimationspaket für die Reformen - die heute der größte Verband der Zivilgesellschaft in der Ukraine bilden.
Viele Vertreter der Nichtregierungsorganisationen sind in verschiedenen Gremien sowie auch in Beratungsstrukturen bei staatlichen Stellen engagiert. Der Gesellschaftliche Integritätsrat beurteilt die Eignung wie die Unbestechlichkeit der Kandidaten für das Richteramt und hat das Recht, in den Bewerbungsprozess einzugreifen. Ein solches Gremium ist einmalig auf der Welt. Die Kommission für die Besetzung der höheren Laufbahnposten im Staatsdienst, die Ende 2015 gegründet wurde, nimmt an der Auswahl der höheren Staatsbeamten teil. Die von der Gesellschaft gebildeten Räte für die Staatsorgane verpflichten sich, die Kontrolle über die Tätigkeiten der Staatsorgane auszuüben. Sie verfügen über Einfluss auf diese Gremien. Damit erfüllt die Zivilgesellschaft zum Teil staatliche Funktionen,  da das Vertrauen der Bevölkerung in die Staatsregierung niedrig und der Wunsch, alles unter Kontrolle zu halten, sehr hoch ist.

Auf der anderen Seite der Barrikade

Die Ukraine erlebt eine schwierige postrevolutionäre Periode, die mehr oder weniger mit gesellschaftlichen Misstrauen geprägt ist. Zudem werden die Reformen nicht so schnell und wirksam durchgesetzt, wie es 2014 versprochen wurde. Eine überzeugende Agenda des Staates ist nicht erkennbar. Zudem geht der Krieg in der Ostukraine weiter. Unter diesen Umständen wird sogar die liberalste Gesellschaft radikalisiert. Daher ist die Stimmung einiger gesellschaftlichen Organisationen durch eine kritische Gegnerschaft gegenüber der Regierung bestimmt. Als Folge entstehen Schwierigkeiten und Missverständnis in der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen Gruppen und schlagen auf die Kooperation innerhalb der Organisationen der Zivilgesellschaft durch. Sobald die Gesellschaft mit den Maßnahmen der Staatsführung  nicht zufrieden ist, kommt es zu sofortigen Reaktionen, die durch Diskussionen, markante Statements und Massenproteste ihren Ausdruck finden. Anfangs, nämlich in den Jahren 2014-2015, ging die Regierung mehr auf Wünsche der Gesellschaft ein. Das war durch die schwache Position der Regierenden und die Kampfhandlugen im Osten der Ukraine bedingt. Seit 2016 ist die Bereitschaft, den Dialog mit den Vertretern der Gesellschaft weiter zu führen, deutlich zurückgegangen. Die Zivilgesellschaft ist daher auf der Suche nach den effektiveren Mitteln, ihre Interessen Gehör zu verschaffen.

Die Menschen können schon viel selbst

Einerseits gehört die Ukraine zu den Entwicklungsländern, zugleich nähert sie sich in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung  den europäischen Staaten in vielen Punkten an. Im Gesundheits- oder Bildungswesen klaffen die Erwartungen und die Realität noch weit auseinander. Deshalb wollen die Organisationen der Zivilgesellschaft diese Bereiche auf das europäische Niveau heben und sich dabei nicht auf den Staat verlassen. Für den Bildungsbereich sind erste Erfolge zu verzeichnen, die mit den Projekte Prometheus, EdEra und Education assembly erreicht wurden.
Um den Gesundheitsbereich voran zu bringen, beschäftigen sich viele Organisationen mit der Sammlung der Blutspenden, da die staatlichen Krankenhäuser nicht ausreichend versorgt werden. Das bekannteste Projekt ist SpenderUA, das umfassend über die Möglichkeiten zur Blutspende und weiteren Gesundheitsfragen informiert.

Die Freiwilligen im Donezgebiet

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Freiwilligenbewegung. Während 25 Jahre der Unabhängigkeit wurde die Armee sehr vernachlässigt. Anfangs konnte die ukrainische Armee dem Angriff Russlands nur mithilfe der Freiwilligen etwas entgegensetzen. Sowohl die großen Freiwilligenorganisationen wie Army SOS, Come back alive, Phönixflügel, Volkshinterland, als auch hunderte Menschen, die die Bedrohung ihres Landes nicht gleichgültig ließ, haben sich an der Front engagiert, Geld gesammelt und Ausrüstungen beschafft. Diesen Menschen ist es zu danken, dass die Ukraine ihre Staatlichkeit  bewahren konnte.
Die Zivilgesellschaft in der Ukraine ist noch lange nicht stabil, sie entwickelt sich weiter, nicht zuletzt, indem sie aus eigenen Fehlern lernt. Auch wenn im Moment die Energie nachzulassen scheint, bleibt der Einfluss der Zivilgesellschaft und ihrer Organisationen auf die Lebensordnung in der Ukraine sehr stark.
Dieser Beitrag verdankt sich der Beratung durch Bogdan Bondarenko, Experte für Verfassungsrecht, Wahlen und Parlamentarismus im Zentrum für politische und rechtliche Reformen der Ukraine

Links: Reanimationspaket für die Ukraine 


Kategorie: Politik

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