Studieren, um weise zu werden

Studieren nach Einführung der Bologna-Reformen heißt, ein Lernpensum zu absolvieren, welches viele wie eine Zwangsjacke empfinden. Es war aber bereits die Grundidee der Akademien in Athen gewesen, nicht nur zu wissen, sondern das Leben zu verstehen. Durch das Studium soll man Weisheit gewinnen.

Weise fragt man, wenn es um ein ausgewogenes Urteil geht. Was man in einem Lexikon nachlesen kann, ist noch nicht „Weisheit“, auch wenn die Gedanken von weisen Männern und Frauen dort zitiert werden. Weise heißt auch, dass ich mich auf mein Denken verlassen kann. Ich muss nicht ständig mitbekommen, was andere gerade denken oder was in Facebook gepostet wird. Ich kann mir selbst eine Meinung bilden, um Sachverhalte, Vorgänge, Projekte beurteilen. Weise ist der, der „ein gutes Urteil“ hat.  

Die ganze Existenz des Menschen im Blick

Es braucht auch deshalb nicht nur Wissen, weil der Mensch Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit entwickeln muss. Das Urteil bezieht sich nicht allein auf den Gebrauchswert eines Handys oder einer Küchenmaschine. Auch das setzt voraus, dass der Urteilende sich einen Überblick verschafft hat. Weisheit beginnt jedoch erst ab dem Punkt, an dem man überlegt, ob man ein Smartphone oder eine weitere Küchenmaschine überhaupt braucht. Denn Weisheit beurteilt die Dinge und Umstände unter der Gesamtperspektive des menschlichen Lebens. Deshalb zielt sie auf Vollkommenheit. Denn ob jemand in der Religion die Hoffnung auf eine vollendete Existenz nach dem Tod gründet oder ob es ihm um ein volles Menschsein geht, es wird der weise, der die immer größere Vollkommenheit im Erkennen und Handeln anzielt. Diese Vollkommenheit, die alle Weisheitslehrer im Blick haben, gewinnt man nicht, wenn man nur bis Übermorgen denkt. Wären die Investmentbanker und die Vorstandsmitglieder der Banken weise gewesen, dann hätten sie nie Renditen von 25% versprochen. Inzwischen weiß jeder, dass das kurzfristige Erzielen hoher Renditen das ganze System in den Abgrund getrieben hat. Aber nur der, der das vorher auch gesehen hat, kann als weise bezeichnet werden. Nachher ist man nicht weise, sondern nur klüger.

Weisheit – was es mit dem Menschsein auf sich hat

Im Studium, ob bei den Geisteswissenschaften, in der Medizin, in der Rechtswissenschaft oder in den Wirtschaftswissenschaften geht es um den Menschen. Jedes Fach öffnet einen eigenen Zugang zum Menschen. Wenn die Studierenden den Menschen durch ein Studium besser verstehen, dann führt die Lernarbeit zur Weisheit. Denn die Voraussetzung für Weisheit ist ein Überblick, was es zu wissen gibt. Wer aber nur weiß, steht noch am Anfang, weise zu werden.

Zu viel Faktenwissen hält Weisheit außen vor

Wenn die Bachelorstudiengänge viel Wissen abfordern, dann ist es schwer, sich als Mensch, der innerlich wachsen will, wiederzufinden. Es braucht dann Zeit zur Reflexion, am Abend, wenn man auf die Inhalte des Tages zurückschaut und am Wochenende sich klar wird, was eigentlich von dem weiter trägt, was man an Fakten aufnehmen musste.
Am besten ist es, bei dem eigenen Interesse anzusetzen, warum man das Fach gewählt hat. Denn in diesem Interesse steckt der Antrieb, über sich hinauszuwachsen, sich Einblicke zu verschaffen, Zusammenhänge zu verstehen. Wenn man die Reflexion mit der Frage beginnt: „Warum studiere ich Jura, Geschichte, Theologie, Betriebswirtschaft?“ findet man leichter heraus, was man neben dem Stoff über den Menschen gelernt hat. Dafür findet man auch immer Autoren, die das vorgemacht haben

Einen „weisen“ Autor seines Faches lesen

Auch wenn viel Stoff zu bewältigen ist, es gibt immer Zeit, sich mit den Schriften eines anerkannten Autors einen Überblick über sein Fach zu verschaffen. Das gilt nicht nur für die Philosophie, sondern für alle Studienrichtungen, auch wenn es dann eines philosophischen Ansatzes braucht, also das Spezifische in einen größeren Horizont einbauen, warum es Juristerei, Museen, Personalabteilungen, Schule, Medizin, Medien überhaupt gibt. Diesen Autor sollte man nicht deshalb lesen, um eine Prüfung besser zu bestehen, sondern um zu verstehen, wie man Rechtswissenschaft betreibt, wie man die Wirtschaftsprozesse besser versteht, wie man theologisch denkt, wie eine geschichtliche Epoche zu verstehen ist.
Mit einem solchen Autor im Rücken kann man sich an den Grundsatzdiskussionen seines Faches beteiligen. In jedem Fach gibt es ungeklärte Frage, auf die sollte man zusteuern, nicht mehr als Student, der einen guten Eindruck machen will, sondern als jemand, der selbst denken gelernt hat und daher mitreden darf. Professoren, die Studenten an Grundsatzdiskussionen beteiligen, sind weise.

Weisheit aus Liebe

Der Erwerb von Weisheit wird im Griechischen nicht als Wissenschaft, sondern als Liebe, Philia, zur Sophia, der Weisheit. Philia ist nicht die erotische und nicht die Nächstenliebe, sondern ein freundschaftliches Verhältnis. Offenheit gegenüber dem Ganzen und auch das Vertrauen, dass die Wirklichkeit in ihrem Grund es gut mit dem Menschen meint. Zwar braucht die Weisheit auch Rationalität. Was nicht logisch durchdacht, was in seiner Begrifflichkeit verschwommen bleibt, kann nicht als weise bezeichnet werden. Die Schulung des Denkens ist unerlässlich, jedoch ist Denken noch nicht unbedingt Weisheit. Dazu haben sich frühere Generationen Gedanken gemacht.

Platon sagt es knapp: „Weise reden, weil sie etwas zu sagen haben,
Toren sagen etwas, weil sie reden müssen.“

So finden sich im Alten Testament mehrere Bücher zu Weisheit. Im 7. Kapitel des Buches der Weisheit findet sich folgender Lobgesang. Wie in dem ganzen Buch klingt auch hier an, dass nur derjenige, der sich vom Bösen abwendet und das Gute sucht, die Weisheit findet:

„Alles Verborgene und alles Offenbare habe ich erkannt; denn es lehrte mich die Weisheit, die Meisterin aller Dinge.
In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, zart, beweglich, durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich, fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend, die denkenden, reinen und zartesten.
Denn die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung; in ihrer Reinheit durchdringt und erfüllt sie alles.
Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes und reiner Ausfluss der Herrlichkeit des Allherrschers; darum fällt kein Schatten auf sie.
Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Vollkommenheit.
Sie ist nur eine und vermag doch alles; ohne sich zu ändern, erneuert sie alles. Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten;denn Gott liebt nur den, der mit der Weisheit zusammenwohnt.
Sie ist schöner als die Sonne und übertrifft jedes Sternbild. Sie ist strahlender als das Licht; denn diesem folgt die Nacht, doch über die Weisheit siegt keine Schlechtigkeit.“

Diesen Text kann man sich über den Computer hängen, damit man sich in trüben Stunden daran erinnert, warum sich Studieren lohnt.


Kategorie: Monatsthema

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