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Spiritualität - Gehirnwäsche oder selbständig werden

(explizit.net) Interview mit P. Rainer Carls S.J. - Deutscher Jesuit, in Schweden tätig // Die Exerzitien des Ignatius von Loyola

(explizit.net) Interview mit P. Rainer Carls S.J. - Deutscher Jesuit, in Schweden tätig // Die Exerzitien des Ignatius von Loyola

P. Carls, Sie haben sich intensiv mit der Spiritualität des Ignatius von Loyola beschäftigt. Er hat dafür Schritte und eine Meditationspraxis entwickelt. Worum geht es im Kern bei den Exerzitien?

Ignatius beschreibt in der ersten Anmerkung zu seinen geistlichen Übungen (Exerzitien = GÜ) das Ziel dieser Übungen in zwei Schritten. So wie es der Fall bei Leibesübungen ist, sollen die GÜ dem Menschen zunächst helfen von den Behinderungen durch egozentrische innere Verkrampfungen und Blockierungen, die Ignatius „ungeordneten Neigungen“ nennt, frei zu werden. Erst danach sollen die GÜ dem sich Übenden die Möglichkeit eröffnen, den Willen Gottes in konkreten Situationen des eigenen Lebens zu erahnen und durch Befolgung dieses Willens auch die Integrität und Vollendung der eigenen Person zu suchen und zu finden. Die GÜ sind also keineswegs in erster Linie eine Meditationspraxis oder eine neue Gebetsform, wie man oft sagt. Schon die Mitbrüder des hl. Ignatius betonen, dass die GÜ eigentlich nichts Neues enthalten. Gleichzeitig betonen sie, dass die in den GÜ vorkommenden Meditationen, Betrachtungen, Gebete und andere Übungen aus der monastischen und geistlichen Tradition dem persönlichen Prozess des einzelnen Menschen dienen sollen. Gerade aufgrund dieses persönlichen Prozesses, der das ganze Leben umfasst, sind die GÜ so fruchtbar.

Wie erreichen die Exerzitien dieses Ziel?

Dieses Ziel der GÜ, also die Selbstwerdung in Bezug auf Gottes Willen mit der eigenen Person, erreicht der sich Übende dadurch, dass er sich seiner selbst mehr und mehr bewusst wird und seiner persönlichen Vorbedingungen. Ich muss in diesem Prozess mehr und mehr dazu kommen mich selbst als Geschöpf aufzufassen, also als ein unverdientes Geschenk aus Gottes Hand an mich selbst. Ich muss anhand von einzelnen Übungen lernen, dass die rechte Beziehung zum meinem „Herrn und Schöpfer“ darin besteht, meine ganze Person zum Dienst anzubieten und freiwillig mit dem Schöpfer zusammen zu arbeiten, damit diese unsere konkrete, von der Sünde geschädigte Welt endlich wieder heil wird. Ich muss mir auch in der sogenannte „ersten Woche“ der GÜ schamvoll klarmachen, wie sehr ich durch egozentrisches Streben und egoistisches Nein gegenüber dem Willen Gottes bisher mir selbst und der göttlichen Schöpfung geschadet habe. Aber gleichzeitig gilt es das göttliche Erbarmen mit mir als Sünder und mit der sündigen Welt zu erfahren. Dieses offenbart sich in der Menschwerdung des Sohnes Gottes und im Leben und Leiden Jesu für mich und alle und besonders in seiner Auferstehung und Vollendung als Herr über die erlöste Welt. Diesen Erfahrungen sind die zweite bis vierte Woche der GÜ gewidmet. In diesen Periode muss sich aber der Übende auch fragen, inwieweit er selbst bereit ist, nach dem Vorbilde Christi dem Willen des Vaters zu folgen. Wie sehr er in Einheit mit Jesus Christus bereit ist, in Liebe für das Heil der Welt zu arbeiten, zu leben und zu leiden, um vereint mit ihm aufzuerstehen und so selbst vollendet zu werden.

Es gab ja schon früh Kritik an den Exerzitien, der einzelne wäre dem Exerzitienmeister hilflos ausgeliefert. Noch schärfer ist der Vorwurf, es handle sich nur um eine Art Gehirnwäsche. Wie konnte dieser Eindruck entstehen?

Dass in diesen GÜ der sich Übende dem Begleiter nicht wie einem Guru ausgeliefert sein darf, beschreibt Ignatius selbst in der 15. Anmerkung. Dort sagt er, dass man außerhalb der geistlichen Übungen sehr wohl Vorschläge machen und Rat geben kann. Aber im Rahmen der Übungen ist es „beim Suchen des göttlichen Willens“ besser, wenn „der Schöpfer und Herr“ sich selbst dem Übenden mitteilt. Deshalb soll der Begleiter sich wie eine „Waage“ im Gleichgewicht verhalten, so dass der Schöpfer „unmittelbar“ mit dem Geschöpf umgehen und sich ihm mitteilen kann. Der Vorwurf der Manipulation und Gehirnwäsche kann also nur solchen Begleitern gemacht werden, die sich nicht an diese Anmerkung halten.

Wie ist Ignatius überhaupt auf die Exerzitien gekommen?

Ignatius hat diese GÜ von Anfang an nicht als einen fertigen Text niedergeschrieben. Deshalb ist es nicht berechtigt anzunehmen, wie es oft gesagt wurde, dass Maria ihm die GÜ in seiner Bekehrungszeit in Manresa direkt diktiert hat. Vielmehr hat Ignatius sich anfangs Jahre persönliche Aufzeichnungen über die eigenen geistlichen Erfahrungen und den persönlichen langjährigen Entwicklungsweg gemacht. Seine Mitbrüder betonen, dass er diese aufgrund neuer Erfahrungen und später im Rahmen seiner mehr als zehnjährigen Studien immer wieder überarbeitet hat. Schließlich hat er sie so umgeformt, dass sie mehr zu einem Handbuch für den geistlichen Begleiter geworden sind. Deshalb sollte man die GÜ nicht lesen wie ein anderes frommes Buch, sondern man muss sie machen. Erst danach kann man ihren Wert verstehen.

Sie unterscheiden zwei Lebensentwürfe. Der eine besteht eher in der Nachahmung. Sie setzen dem die Personwerdung entgegen. Warum ziehen viele Menschen den Weg der Nachahmung vor?

Diese Unterscheidung von zwei Lebensentwürfen hat ihren Grund in dem Gedanken, dass Gott als Schöpfer jeden Menschen als eine ganz individuelle Person in einer ganz konkreten Situation will und schafft. Deshalb kann mich eine Nachahmung oder Imitation eines Heiligen, wie beispielsweise des Franz von Assisi, nur zu einer schlechten Kopie machen. Vor allem seit der Renaissance sind wir überzeugt, dass jeder Einzelne ein Original und deshalb nicht nachahmbar ist. Deshalb muss jeder von uns seine eigene, von Gott gewollte Originalität in seiner konkreten Situation entdecken. Auch eine Christusimitation kann missverstanden werden, wenn man sie nicht als eine in der Taufe begründete Nachfolge Christi in seinen Tod und seine Auferstehung und/oder als Einswerdung mit ihm als Glied im mystischen Leibe Christi, also der Kirche, auffasst.

Liegt der Weg der Personwerdung eigentlich dem Christentum zugrunde?

Ich meine, dass dieser Weg der Personwerdung zum Wesen des Christentums gehört. Denn Gott hat mich und überhaupt die Welt nicht irgendwann einmal in Gang gesetzt und sich dann als pensionierter Techniker in den Himmel zurückgezogen. Vielmehr ist er nach der Auffassung des Ignaitus derjenige, der in jedem Augenblick als Schöpfer in mir wirkt und mich nach einem grundlegenden Schöpfungsplan als unersetzbares Original zum Besten der ganzen Welt schafft. Ich selbst aber werde nur dann zu dieser individuellen Person, die dem Plane und Willen Gottes entspricht, wenn ich mich diesem Plane und Willen Gottes gleichförmig mache. Nur dann werde ich die fantastische und einmalige Person, die Gott sich gedacht hat. Die verständliche aber gleichzeitig sehr zerstörerische Versuchung besteht nun darin, dass ich einen Plan für mein Leben entwickele, der nach meiner Meinung besser ist als der Plan Gottes. Jede Sünde hat ihren Grund darin, dass ich auf sehr egozentrische Weise mich selbst zu meinem eigenen Schöpfer machen möchte und mich deshalb aufgrund meiner Freiheit weigere, dem Plan Gottes zu folgen. Ein solches sündiges Nein zum Willen Gottes hat zur Folge, dass ich nicht zu der Person werde die Gott in Liebe schaffen möchte. Dadurch schädige ich mich selbst und dieser Mangel in und an mir hat schädliche Folgen für die gesamte zukünftige Welt. Wenn Gott mich in seiner Barmherzigkeit trotz meines Eigenwillens nicht heilen wollte, hätte ich keine Chance, wenigstens einigermaßen zu der Person zu werden, die Gott ursprünglich gewollt hat. In der abschließenden Kontemplation über die Liebe lässt Ignatius den sich Übenden beten, dass Gott die gesamte Freiheit, mit der man sich auch weigern kann, als Geschenk entgegennehmen soll (GÜ 234). Nur auf diese Weise kann man trotz aller früherer „Neins“ die Person werden, die Gott in seiner Gnade neuschaffen will.

Was bedeutet dann aber Beten. Damit unterwirft sich der einzelne zwar nicht einer menschlichen Autorität. Aber dafür einer noch mächtigeren, nämlich Gott.

Gebet bedeutet nicht, dass ich Gott auf etwas aufmerksam machen will, was er nicht schon weiß. Es kann auch nicht bedeuten, dass ich Gott manipuliere und ihn gleichsam zwinge, seinen eigenen Plan zu ändern. Die beste Form des Betens besteht darin, dass man mit dem Vaterunser sagt: „Dein Wille geschehe!“ oder dass man mit Christus am Ölberg bittet: „Vater nimm diesen Kelch von mir. Aber nicht mein sondern dein Wille möge geschehen.“ Gerade in meiner Unterwerfung unter den Willen Gottes und meiner Gleichförmigkeit mit diesem werde ich zu der Person, die allein Gott zum schöpferischen Grund hat. Ich werde die Person, die Gott sich denkt, die Er will und die Er schafft, nur dann, wenn ich mich ganz seinem Willen gleichförmig mache. Alle meine Selbstentwürfe ohne Hinblick auf Gottes schöpferischen Willen führen letzten Endes zu etwas Schlechteren.

Wie verträgt sich aber das Selbstständig-Werden damit, dass man als Christ unbedingt zur Kirche gehören muss?

Das Selbständig-Werden des Menschen als Person bedeuten nicht, dass ich mich zu einem autonomen und selbstherrlichen Gott machen darf. Wenn Gott mich als die Person schafft, die ich in Vollendung werden kann, und wenn er mir die Erlösung anbietet und durch die Taufe zum lebendigen Glied im Leibe Christi, der Kirche machen will, dann werde ich nur dann zu der von Gott geschaffenen und erlösten Person, wenn ich mich ganz in diesen Leib Christi einfüge. Nur dann kann Gott ohne meinen Widerstand die Welt durch mich als Werkzeug nach seinem Willen schaffen und erlösen.

Es gibt im Moment in Deutschland eine große Unzufriedenheit mit der verfassten Kirche. Schon Luther war der Meinung, die Kirche hindere den Menschen an einer direkten Beziehung zu Gott. Was sagt man denen, die diesen Vorbehalt gegen die Kirche äußern?

Es ist kaum möglich, in einem Interview jedem Einzelnen, der sich kritisch gegenüber der verfassten Kirche äußert, eine vollwertige Antwort zu geben. Eine solche Kirchenkritik kann viele Gründe haben. Aber eines möchte ich doch ganz allgemein sagen. Es ist nicht die Kirche, die Menschen an einer direkten Beziehung zu Gott hindert. Der eigentliche Grund dafür liegt vielmehr in einzelnen Menschen der Kirche, die in der Kirche auf egozentrische Weise ihre eigenen Vorteile und ihr eigenes Heil suchen und die sich nicht dem Willen Gottes gleichförmig machen, um selbstlos nach dem Vorbild Jesu Christi den Mitmenschen und der sündigen Welt zum Heil zu helfen.

P. Carls, wir danken für das Interview



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