(explizit.net)Der Irak: Wohl kaum ein anderes Land steht seit über einem Jahrzehnt für Krieg, Terror, Hoffnungslosigkeit. Das tragische Kapitel des Landes an den Flüssen Euphrat und Tigris, welches mit der Invasion der US-Truppen im Jahre 2003 aufgeschlagen wurde, scheint mit dem Vormarsch der Terrorgruppe „Islamischer-Staat“ endgültig an seinem Höhepunkt angelangt. Hat der Irak als Staat eine Zukunft? Oder ist das Schicksal des Iraks besiegelt? Und welche Auswirkungen zeitigen diese Entwicklungen auf die Region? Das neue Buch „Irak – Ein Staat zerfällt. Hintergründe, Analysen, Berichte“, erschienen im Promedia-Verlag und herausgegeben von Tyma Kraitt setzt hier an und versucht sich in einer Analyse der vielen, durchaus verwirrenden, Komponenten dieses Konflikts.
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes über die aktuelle Situation im Irak decken die unterschiedlichsten Felder ab, von der Energiepolitik, den konfessionellen Spannungen, ethnischen Bruchlinien bis hin zur ökologischen Lage. Dabei ist vor allem der unaufgeregte und wissenschaftliche, aber durchaus verständliche Stil, in dem die meisten Beiträge verfasst sind, eine Wohltat.
Inhaltlich bietet der Band bemerkenswerte Schwerpunkte. So behandelt der Beitrag von Myassa Kraitt „Frauen im Abseits: Wie Frauenrechte zurückgedrängt werden“ (S. 119), die Folgen der zunehmenden „Reklerikalisierung“ der Politik auf die Lebenswirklichkeit der Frauen. Es wird auch auf der Seite der Anhänger religiöser Traditionen gerne vergessen, dass eben diese Traditionen von Menschen gelebt werden, die nicht unfehlbar sind. Religiöse Traditionen bieten ein umfassendes Regelwerk, welches im Alltag oftmals rigorose Anwendung findet. Mit Folgen. Myssa Kraitt bietet mit ihrem Beitrag einen Einblick in einen Bereich, die Situation der Frauen, welcher bei uns oftmals ausgeblendet bleibt.
Einen ebensolchen wichtigen Einblick in ein anderes Politikfeld, die Energiepolitik, bietet Werner Ruf mit seinem Beitrag „Blutige Grenzen: Wie Öl, Gas und Geostrategie die Landkarten des Nahen und Mittleren Ostens verändern“ (S. 163). Rufs Beitrag ist dabei weit mehr als die Wiederholung des einen oder anderen antiimperialistischen Mantras. Besonders sein Exkurs über den „Islamischen Staat“ bietet reichhaltige Information. So meint Ruf, dass es dem IS durchaus gelingen könnte seine Macht durch eine gekonnte Energiepolitik zu konsolidieren. Der Westen, so Ruf, hätte vermutlich wenig Probleme sich mit einem solchen Akteur am Ende des Tages zu arrangieren – er (der Westen) könne ja schließlich auch mit den Golfmonarchien. Bemerkenswert ist der Beitrag schon alleine aus dem Grund, weil er klarstellt, dass der IS eine immense Nervosität in Geheimdienst- und Regierungskreisen auslöse, weil er imstande sei, sich selbst, ohne nennenswerte Hilfe seitens staatlicher Akteure, zu finanzieren.
Energie und natürliche Ressourcen wie Wasser, die als Waffen eingesetzt werden könnten: Das ist auch der Tenor des für den Autor dieser Zeilen vielleicht wichtigsten Beitrags dieses Bandes. Unter dem Titel „Wasser, Krieg und Ökozid im südlichen Mesopotamien“ legt Reza Nourbakhch-Sabet eine profunde Sicht auf ein in unseren Breiten vollkommen vernachlässigtes Gebiet: Den Zusammenhang zwischen der „Bekämpfung“ und Vernichtung der Natur und politisch-strategischen Interessen. Es geht also kurz gesagt um die Auswirkungen von politischer Macht auf die Natur. Das Schicksal der Madan, der „Marsch-Araber“, die im südlichen Irak, am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris leben, zeigt, wie sehr politische Interessen die Natur als Lebensraum für Mensch, Tier und Pflanzen, bedrohen, ja vernichten können.
Diese Bevölkerungsgruppe lebte in den Sumpfgebieten mit einer einzigartigen Subsistenzökonomie. Dabei beschönigt Nourbakhch-Sabet keineswegs Schwierigkeiten, die in dieser Lebenswelt lagen, zugleich schafft er es aber unsentimental aufzuzeigen, wie sehr „Wasser“ als Waffe gebraucht werden kann, und somit schlägt er die Brücke in das Heute des „Islamischen Staates“, der den Mosul-Staudamm als Massenvernichtungswaffe gebrauchen könnte, mit möglichen verheerenden Folgen für Millionen von Menschen.
Der Wiener Promedia-Verlag steht seit langem für Bücher, die sich gründlich mit ihrem jeweiligen Sujet auseinandersetzen. Das vorliegende Buch bietet hier keine Ausnahme. Es sei jedem empfohlen, der einen Teil der Geschichte des Irak verstehen möchte. Der Promedia-Verlag mag durchaus auch umstrittene Werke vorlegen: Wer sich im deutschen Sprachraum mit aktuellen politischen Entwicklungen im Mittleren Osten beschäftigen möchte und seine Informationen nicht in der Sensationsliteratur sucht, der wird an diesem Buch, aber auch am Promedia-Verlag kaum vorbeikommen.
<emphasize>Rezension von Johannes Auer</emphasize>
Kraitt, Tyma, (Hg.), Irak – Ein Staat zerfällt. Hintergründe, Analysen, Berichte. Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m. b. H., Wien, 2015
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