Foto: Goldmann-Verlag

Rezension: Der Distelfink von Donna Tartt

(explizit.net) Wie der Mensch unerbittlich nach dem Sinn fragt

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Es ist nicht ein Vogel, sondern das Bild eines Finken, das den Leser durch das Buch begleitet. Man befindet sich bei diesem Roman wie auf einem Schiff, auf dem man eine lange Zeit mitfahren kann, es nach 1022 Seiten wieder verlässt und die Protagonisten ihrem weitere Lebensweg überlässt. Einfluss auf das Geschehen hat der Leser nicht. Es ereignet sich nicht nur von außen kommend alles schicksalshaft, auch die Protagonisten sind sich selbst Schicksal. Am Ende kommt der Erzähler zu dem Ergebnis, dass man sein Herz als Vorgabe mitbekommen hat, man kann seinen Charakter nicht ändern, sondern muss mit ihm zurecht kommen.

(explizit.net) Wie der Mensch unerbittlich nach dem Sinn fragt

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Es ist nicht ein Vogel, sondern das Bild eines Finken, das den Leser durch das Buch begleitet. Man befindet sich bei diesem Roman wie auf einem Schiff, auf dem man eine lange Zeit mitfahren kann, es nach 1022 Seiten wieder verlässt und die Protagonisten ihrem weitere Lebensweg überlässt. Einfluss auf das Geschehen hat der Leser nicht. Es ereignet sich nicht nur von außen kommend alles schicksalshaft, auch die Protagonisten sind sich selbst Schicksal. Am Ende kommt der Erzähler zu dem Ergebnis, dass man sein Herz als Vorgabe mitbekommen hat, man kann seinen Charakter nicht ändern, sondern muss mit ihm zurecht kommen.

Warum sich die tausend Seiten lohnen

Für den Rezensenten wird das Buch im Gedächtnis präsent bleiben. Es ist die außergewöhnliche Geschichte, noch mehr, wie der Protagonist damit fertig wird, dass sein Leben mit 13 Jahren so erschüttert wurde, dass er sich von dem Schmerz nicht erholt. Auf dem Weg bis ins Erwachsenenalter und einer Tätigkeit im Antiquitätengeschäft werden alle die Herausforderungen und Fragen durchgearbeitet, die sich auch dem Leser stellen. Dabei gibt es lange Strecken Alltag, in der Schule, in einem Vorort von Las Vegas, in dem die meisten Häuser leer stehen, die Freundschaft zweier Jungen, denen die Mutter genommen wurde, wie Rauschgifte zum Alltag dazu gehören kann. Da der Protagonist in der Werkstatt eines Restaurators Aufnahme und in dem Restaurator einen weisen Beschützer findet, lernt man die Feinheiten dieses Handwerks kennen, wie man Beschädigungen ausbessert, an welchen Stellen ein Schrank oder ein Stuhl abgenutzt sind, woran man Fälschungen erkennt.

Da der größte Teil des Romans in New York spielt, lernt man die Stadt anderes als ein Tourist kennen, vor allem was das Wetter mit der Stadt macht. Es gibt sehr viel Alltag, der immer in seiner Wirkung auf die Seelenlage beschrieben und damit zum Sprechen gebracht wird.

Der Spalt, durch den eine andere Welt erahnbar wird

Unter diesem Geschehen fließt ein tieferer Strom, die Auseinandersetzung mit der Kunst. Das Bild eines holländischen Malers, eben der Distelfink. Der Dreizehnjährige hat ihn aus einem Museum mitgenommen, nicht einfach so, sondern nach einer Explosion, einem Terroranschlag auf die Kunst. Seine Mutter war durch einen herabstürzenden Balken getötet worden. Ein alter Mann, der verblutete, hatte ihm einen Ring anvertraut und ihm aufgetragen, das Bild zu retten. In dieser Szenen werden die Linien angelegt, die sich durch den Roman ziehen. Der Verlust der Mutter ist der bleibende Einschnitt in sein Leben. Kein anderer Mensch kann sie ihm ersetzen. Sie hatte die Liebe zur Kunst von einem Bauernhof nach New York und zugleich in eine unglückliche Ehe gebracht. Das Bild behält er. Welche Bedeutung es für ihn hat, wird erst gegen Ende des Romans deutlich. Während der größten Wegstrecke ist das Bild eine Gefährdung. Auf Kunstraub stehen hohe Strafen. Ein gewiefter Antiquitätenhändler kommt ihm sogar auf die Spur. Dann ist das Bild auch durch falsche Lagerung und zu geringe Luftfeuchtigkeit während der zwei Jahre, die er in Las Vegas verbringt, in Gefahr. Es ist dann die Erzählkunst der Autorin, die ihn zuerst von dem Bild befreit, ihn dann in eine lebensgefährliche Auseinandersetzung führt und dann noch zu einer überraschenden Lösung kommt.

Das Bild ist Anker der Romankonstruktion und zugleich Thema, an dem die Autorin eine Ästhetik entwickelt, die den meisten philosophischen Werken überlegen ist. Sie zeigt nämlich, wie der Museumsbesucher von einem Bild erfasst wird, mit ihm im Dialog steht. Sozusagen als Ouvertüre war die Mutter mit ihm durch die Ausstellung gegangen. Auch wenn in den Augen von Theo ihm das Leben feindlich und als eine Folge von Depravationen begegnet, durch einen Spalt, wie er im Schlusskapitel reflektiert, scheint eine andere Welt in sein unglückliches Dasein.

Die andere Welt

Der Roman hat ein Gegenüber, trotz Rauschgift, Betrug, Fehlschlägen, trotz einer depressiven Grundstimmung, auch der Alkoholiker, die beide Väter der Freunde sind, ist es das Leben. Keiner der handelnden Personen hat sein Leben in der Hand, nur wenige haben sich in der Hand. Sie scheinen ausgeliefert, vor allem den negativen Zügen ihres Charakters. Theo, der Erzähler, scheint nur reagieren und sich irgendwie retten zu können. Jedoch gibt er nicht auf, indem er die Sinnfrage offen hält. Er erhält keine Antwort. Nur den großen Künstlern scheint es vergönnt, wie dem Maler des Bildes, etwas zu schaffen, das dem Verschleiß der Zeit standhält und einen Blick durch den Spalt freigibt, der die Betondecke, unter der der Mensch sich ducken muss, durchbricht.

Das Buch widerlegt alle gängigen Antworten auf die Lebensfrage, am ehesten die da heißt: Stehe zu Dir selbst! Genau das wäre für die beiden Freunde tödlich. Auch ein leichtes Urteil über die Abhängigkeit von Alkohol oder Rauschgift kommt einem nach der Lektüre nicht mehr über die Lippen. Schließlich verlieren allzu einfache religiöse Beschwichtigungen, die sich ja auch nicht in der Bibel finden, ihre Plausibilität, auch wenn das Buch mit der Existenz Gottes rechnet - es ist ein Gott, der sich in Schweigen hüllt.

Zwei kurze Textauszüge sollen andeuten, worum es in dem Buch geht:

"Es geht nicht um den äußeren Schein, sondern um innere Bedeutung. Um eine Pracht

<emphasize>in </emphasize>

der Welt, die nicht

<emphasize>von</emphasize>

der Welt ist, eine Pracht, die die Welt nicht verstehen kann. Um jenen ersten Blick auf das reine Andere, in dessen Anwesenheit du auswärts erblühst und blühst und blühst." S. 1009

"Vielleicht ist es das, was uns am Ende der Reise erwartet, eine Majestät, die unvorstellbar ist bis zu dem Augenblick, da wir unversehens durch die Tür treten: das, was wir staunend erblicken, wenn Gott endlich Seine Hand von unseren Augen nimmt und sagt: Schau!" S.1019

<emphasize>Eckhard Bieger S.J.</emphasize>

Der Distelfink, Donna Tartt, ins Deutsche übertragen von Rainer Schmidt und Kristian Lutz, Goldmann Verlag, München 2013

Weitere Informationen zum Buch finden Sie

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Schlagworte: #Rezension

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