(explizit.net) Anfang und Ehre am Nil
Sie mögen den Schlag wie Männer ertragen, sagte der Direktor der Taufiqiyya-Schule zu Husain und Hasanain aus der 4d und der 3c. Vater tot? „Unmöglich!“, schrie der Jüngere. Vor zwei Stunden sah er den Vater noch gesund, als er sich für das Ministerium fertig machte. Aber es half nichts, er starb binnen Minuten an Herzversagen. So erzählt uns Najib Mahfuz den Beginn eines fast alltäglichen Familiendramas in Kairo. Der Novelist verfolgt, wie die mittelose Mutter samt fünf Kindern in den 1930er Jahren der Armut zu entrinnen sucht und dann doch viel verliert, darunter einen Sohn und die einzige Tochter.
Nach dem väterlichen Verlust muß jeder überprüfen, was er zum Überleben der Familie beisteuern kann. Hasan, der älteste Sohn, erscheint als Taugenichts. Seine beste Tat ist es wohl, einfach wegzubleiben und der Mutter nicht noch auf der Tasche zu liegen. Nafisa, die Tochter mit einem sehr eigenen Gesicht, aber schönen Körper, muß sich als Näherin verdingen. Eigentlich erwartete man im damaligen Land, daß sie sich möglichst rasch und gut verheiratet. Aber bei ihr will sich einfach kein Freier einstellen. Und so bleibt ihr nichts weiter als ihrer Hände Geschick. Na, und vielleicht noch etwas, indessen Dunkles.
Alle träumen davon, irgendwie der Armut zu entfliehen, richtig zu essen. Oder auch nur schöne Kleidung und zudem ein eigenes Bett in einer gut möblierten Wohnung zu haben. Die beiden Jungens sollten bald ihr Abitur machen, so daß sie wenigstens einigermaßen verdienen und der Mutter wie der Familie helfen können. Aber dazu fehlt das Geld. Papa verdiente als Beamter 17 Pfund im Monat, die eine Witwenrente von fünf Pfund ergeben.
Konservendose
Davon entallen zwei Pfund auf diese Miniwohnung. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Also gewöhnen sich alle Abendbrot ab. Nafisa und Mutter Umm Hasan schalten im Dunkeln kein Licht an, um Stromgeld zu sparen. Sie lassen die Tür zum Zimmer der Jungens auf, die Hausaufgaben machen müssen. Dieses harte Leben zwingt sie in schier unüberwindliche Bande. Husain, der Ältere, kann nicht weiter zur Schule gehen. Er muß als Schulsekretär arbeiten, weit weg im Nildelta, in Tanta. Er schickt Geld an die Mutter.
Der Jüngere hat nach seinem Abitur Glück. Er besucht eine teuere Offiziersschule. Alle helfen ihm, daß er die Kosten bestreiten kann. In Deutschland kommt Hitler auf und die koloniale Briten brauchen mehr Soldaten und Kommandeure am Nil. Als Sturmwolken am Horizont heraufziehen, kommt Hasanain in den um ein Jahr verkürzten Intensivdrill.
Bald trägt er den Offiziersstern auf der Uniform spazieren. Endlich Geld, Familenumzug und das schöne Heliopolis. Standesdünkel fesselt alle: wer sich mit wem verloben darf. Liebe, was ist das? Ein Offizier heiratet keine Bäuerin. Er kann keinen asozialen Bruder haben. Und als die Schwester bei einer Razzia im Bordell erwischt wird, zwingt er sie, um der Ehre willen, sich von der Imbababrücke in den Tod der Nilfluten zu stürtzen. Was hat er nur angerichtet? Er springt ihr nach. Das Ende der Ehre. Was sollen die Leute dazu sagen, die nicht minder an ihren Ketten rütteln? Ist es schlecht, sich verbessern, diesem bösen Elend entrinnen zu wollen? Der Dichter gibt uns da viele Rätsel auf. Einerseits lobt er das Streben. Andererseits zieht er sie herunter in die Tradition Gefangener ihrer selbst. Vorwärts, hört ihn der Leser, in das gemeinschaftliche, verdorbene und tödliche Zurück.
Allein Husain, der sich sehr treu und weniger individuell als Schulsekretär verdingt, zum Glück nach Kairo versetzt wird und „in seinen Kreisen“ selbst mit der Verlobung bleibt, darf leben. Was denn, soll das die Botschaft sein, Schuster bleib bei deinen Leisten? Der Autor läßt andere, die ein wenig ausreißen oder über ihre soziale Stränge schlagen, voll gegen den Baum fahren. Kein Frei-, sondern ein Sozialtod. So gesehen, soll die moderne Ordnung mit Plagen leben, auch als London 1922 Kairo in die Unabhängigkeit entließ. Keiner soll aufsteigen - eine trügerische Kastenordnung in einer fauligen Konservendose?
Taubenschläge
Aber es ist noch nicht so lange her, da verhielt es sich in Deutschland recht ähnlich. Erst mußte Napoleon durch Kriege in den kleinstaatlichen Deutschen ein Nationalbewußtsein entfachen. Dann fielen sie unter den konservativen Zauber ihres Reichsgründers Otto von Bismarck - und mehr noch der Adelshäuser wie der Hohenzollern von Kaiser Wilhelm II.
Über allen schwebte ein unpersönliches Ganzens. Imaginäre Großgruppen, die Normen und zähe Traditionen bewahrten. Wer denkt da nicht an Thomas Manns „Der Unteran“, an Diederich Häßling, der vor der Urkatastrophe im vorigen Jahrhundert alle autoritären Züge der wilhelminischen Zeit verkörpert hat. So auch der Junge mit dem Offiziersstern am Nil. Beiden agieren unter dem Druck verborgener Ansichten. Wessen Werte sind es?
Najib Mahfuz und Thomas Mann geben ihren Helden autoritäre, antidemokratische Züge. Diese orientieren sich am monarchistischen Oberherrn, der ihnen allen Segen und Sinn zu verleihen scheint. Wie die bunte Sternenuniform, bleibt dies jedoch allein ein trügerischer Schein. Denn er führte alsbald ins jähe Ende von Zerrissenheiten - in den Krieg und Tod.
Mahfuz bewunderte auch Thomas Mann. Einige sagen, er nahm sich den Familenroman „Die Buddenbrocks“ als Vorbild. Nach seinem Philosophiestudium an der König-Fuad-Universität, wirkte Mahfuz in den 1930er Jahren im Bildungsministerium. Wer es kennt, weiß, daß es ein Mikrokosmos war: Stockwerke an Schreibtischen der Beamten, bald mit Sekretärinnen und Telefon. Dazwischen eilten Boten, Teeverkäufer und Schuhputzer als Blitzableiter aller Nachrichten und Hausgerüchte. Sie webten feine Bande zwischen den Etagen. Mittlerweile zogen zwar die Ministerien an den Rand Kairos. Doch wer so etwas noch sehen will, verbringe einen Tag im Mujamma am Befreiungsplatz Midan at-Tahrir.
So sah Machfuz Schicksale aus erster Hand wie in „Anfang und Ende“. Die Novelle kam 1947 heraus, nachdem er Wurzeln in Pharaonenromanen wie Cheops und Radubis fand. Nun erhellte er den Alltag. Romane wie Anfang und Ende, Midaq-Gasse, Zwischen den Palästen, Palast der Sehnsucht, Zuckergässchen und Kinder unseres Viertels sind bis 1959 Meisterwerke, wie die Moderne den Alltag am Nil umkrempelt. Da er auch für die Bühne schrieb, erahnt der Leser oft die Theaterkulisse. Pensionär ab 1971, fabuliert er mit Pharaonen, Sozialisten und Islamisten. Der Humanist, gestorben 2006, erhielt 1988 den Literaturnobelpreis. Er fand im Unionsverlag unter Lucien Leitess den Kulturrmittler und in Doris Kilias (1942-2008) die kongeniale Übersetzerin. Wer nun nationale Anfänge im Mittelost der Revolten verstehen will, der entdecke im Unionsverlag den Nilstaat bei etwa 30 Mahfuz-Werken oder Saudi-Arabien in Raja Alems „Das Halsband der Tauben“.
<emphasize>Nagib Machfus: Anfang und Ende. Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Unionsverlag, Zürich 2013, UT 633, 384 S.</emphasize>
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