Die Veröffentlichung des Forschungsberichtes über sexuelle Übergriffe durch Priester an Kindern und Jugendlichen, die sg. „MHG-Studie“ Ende September hat die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche schwer erschüttert. Immer noch wird diskutiert, ob die pädophile oder die homosexuelle Orientierung vieler Täter ein Grund dafür sein könnte. Und wäre etwa die Abschaffung der Zölibatsverpflichtung eine 'Lösung'? Ich stelle in diesem Beitrag einige grundlegende Informationen zu Pädophilie vor - zur Orientierung in einem vielfach „verminten“ Feld.
Definition von Pädophilie
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Pädophilie als „Störung der Sexualpräferenz“ und näherhin als „Sexuelle Präferenz für Kinder, Jungen oder Mädchen oder Kinder beiderlei Geschlechts, die sich meist in der Vorpubertät oder in einem frühen Stadium der Pubertät befinden.“ Zur Diagnose gehören:
- wiederholt auftretende intensive sexuelle Impulse und Phantasien
- den Impulsen entsprechend zu handeln und sich durch sie deutlich beeinträchtigt zu fühlen,
- Bestehen dieser Präferenz seit mindestens sechs Monaten,
- anhaltende oder dominierende Präferenz für sexuelle Kontakte mit einem oder mehreren Kindern vor der Pubertät,
- die Betroffenen (Täter) sind mindestens 16 Jahre alt und mindestens 5 Jahre älter als das Kind oder die Kinder.
Die beschriebene Störung findet sich überwiegend, aber nicht ausschließlich bei Männern. Davon zu differenzieren ist Ephebophilie: Bei der Ephebophilie bezieht sich die Präferenz auf Heranwachsende zwischen 14 und 18 Jahren. Ephebophilie ist in von der WHO nicht als sexuelle Störung mit Krankheitswert beschrieben.
Nach heutigem Kenntnisstand sind die Ursachen der Pädophilie – wie bei vielen anderen chronischen psychischen Störungen – noch nicht völlig erforscht. Man nimmt ein Zusammenspiel von biologischen und psychosozialen Faktoren an. Auch sind nicht alle Täter, die Kinder sexuell missbrauchen, pädophil. Manche wählen aus unterschiedlichen Gründen ersatzweise Kinder, würden aber einen erwachsenen Partner bevorzugen.
Daten zu einer pädophilen Tendenz
Untersuchungen und daraus hochgerechnete Statistiken besagen, dass 1 bis max. 4 % der Menschen pädophil veranlagt sind. Dass der Prozentsatz unter Geistlichen höher ist, gilt für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als gesichert. Pädophilie ist kein ausschließliches Problem zölibatärer Priester oder der katholischen Kirche. Ein Forschungsprojekt an der Berliner Charitè hat berechnet, dass pädophile Übergriffe bei allein lebenden nicht-zölibatären Männern 36mal häufiger vorkommen als bei Priestern.
Pädophile Übergriffe kommen am häufigsten in Familien und in allen Berufsgruppen vor. In pädagogischen Berufen bestehe allerdings eher die Möglichkeit, die eigenen sexuellen Fantasien im Bezug auf Kinder umzusetzen. Pro Jahr gibt es in Deutschland ca. 15.000 Tatverdächtige.
Hinweise auf eine pädophile Orientierung
Es ist kaum möglich, im Vorfeld festzustellen, ob jemand sexuell an Kindern interessiert ist. Es gibt aber Warnsignale, die darauf hindeuten können, dass eine pädophile Neigung gegeben ist:
- keine klare sexuelle Orientierung
- kindliche Interessen und infantiles Verhalten
- kaum Beziehungen zu Gleichaltrigen
- eine gestörte Sexualentwicklung, d.h. entweder zu viel sexuelles Interesse oder völlige Abwehr von sexuellen Impulsen;
- Erfahrungen von Gewalt oder von abnormalen sexuellen Episoden
- eine stark abhängige, introvertierte und passive Persönlichkeit
Eine Therapie im Sinne einer Heilung ist nicht möglich. Ziel ist es vielmehr, die eigene sexuelle Präferenz als Schicksal anzunehmen, in das Gesamt der Persönlichkeit zu integrieren und die eigenen sexuellen Impulse zu kontrollieren. Stabil pädophile Männer können allerdings noch bis ins hohe Alter rückfällig werden.
Hauptursache: Mangelnde affektive Reife
Was führt dazu, dass Priester Kindern gegenüber sexuell übergriffig werden? Wie in jedem Lebensentwurf stehen auch in der Lebensform „Priester sein“ Werte und Bedürfnisse eines Menschen in Spannung zueinander. Hauptursache ist nicht eine homosexuelle Orientierung, sondern die eigene mangelnde affektive Reife. Damit ist die Unfähigkeit gemeint, das eigene Begehren zu erkennen und zu kontrollieren und es dann entweder in dem von der Lebensweise gesetzten Rahmen zu gestalten oder – wenn das nicht geht – auf seine Befriedigung bewusst zu verzichten.
Oft hört man, bei sexuellen Übergriffen ginge es um Macht, Gewalt und Unterwerfung, nicht um Sexualität. Diese Sicht übersieht aber die Wirkmacht des sexuellen Begehrens. Die Präsenz des intensiv Begehrten fordert Kräfte der Selbstkontrolle, die in frühren, stärker ritualisierten Ordnungen so nicht verlangt wurden. Ein affektiv reifer Mensch ist in der Lage, auf die Befriedigung seines Begehrens zu verzichten, wenn er merkt, dass er sich zu Kindern hingezogen fühlt.
Erfahrungen von Intimität unerlässlich
Um als Priester affektiv einigermaßen ausgeglichen zu leben, sind Erfahrungen von Intimität und Transzendenz unerlässlich. Hier meint Intimität nicht genitale / sexuelle Intimität, sondern die Möglichkeit, mit einigen Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft von Priestern bedeutungsvolle Beziehungen zu gestalten, die relativ frei sind von Verzerrungen der Wahrnehmung der eigenen Person durch Rollenzuweisungen, Übertragungen und Gegenübertragungen.
Es unterstützt außerdem sehr, wenn Priester einen „Raum“ haben, in dem sie über sich selbst, ihre Abgründe und Ängste, und nicht über ihre Rollen, Erfolge und pastoralen Tätigkeiten sprechen können (Notwendigkeit eigener Supervision und Weiterbildung).
Entwicklungs- nicht Heilungsmöglichkeiten
Ein Gedankenexperiment: die vielbeschäftigte Hausfrau versteht sich gut mit dem neuen Kaplan und fragt ihn an einem Vormittag: „Können sie grad mal auf meine Kinder aufpassen, damit ich in Ruhe einkaufen gehen kann?“ Darauf der Kaplan: „Nein das geht leider nicht; ich kann nicht mit Kindern allein sein.“
In der heutigen Situation wäre eine solche Szene undenkbar. Aber könnte sich das gesellschaftliche Klima in diese Richtung wandeln? Im Bereich der Alkoholabhängigkeit haben wir das ja schon – anders noch als vor fünfzig Jahren. „Mögen Sie Bier oder Wein zum Essen?“ – „Nein danke, weder noch, ich trinke keinen Alkohol“: eine solche Reaktion ist heute völlig akzeptabel. Vielleicht gelingt solches – nicht nur für Priester, sondern für alle pädophil Empfindenden – in einigen Jahrzehnten ja auch.
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