Foto: Vladimir Shakhlevich

Orthodoxie in Russland

Nach dem Ende des Kommunismus erlebte die orthodoxe Kirche großen Zulauf. Sie ist zu einer wichtigen, aber auch umstrittenen Größe im Russland Putins geworden. Unser Korrespondent in Moskau zeichnet ein differenziertes Bild, so dass wir nicht mehr nur auf sporadische Meldungen angewiesen sind, um uns ein Bild zu machen.

Nach dem Ende des Kommunismus erlebte die orthodoxe Kirche großen Zulauf. Sie ist zu einer wichtigen, aber auch umstrittenen Größe im Russland Putins geworden. Unser Korrespondent in Moskau zeichnet ein differenziertes Bild, so dass wir nicht mehr nur auf sporadische Meldungen angewiesen sind, um uns ein Bild zu machen.

Eine Frage am Anfang: Warum ist gerade Moskau die Hauptstadt Russlands? Wie konnte Russland überhaupt aus einer kleinen Provinz innerhalb des mongolischen Reiches zu einem Land werden, das bis an den Pazifik reicht? Es ist die orthodoxe Kirche, konkret die Übersiedlung des Kiewer Metropoliten nach Moskau. Das war im Jahr 1328.

Russland und die Ukraine unter mongolischer Herrschaft

Da die Mongolen allen ihren Untertanen Religionsfreiheit einräumten und die Rechte der Kirche respektierten, konnte der Metropolit von ganz Russland, der ab da in Moskau residierte, den Moskauer Fürsten faktisch unter seinen Schutz nehmen. So wurde aus einer kleinen unbedeutenden Stadt das Zentrum eines Reiches. Gleichzeitig hat der Metropolit von Moskau das Schicksal der Kirche so eng mit dem Schicksal und der Gunst des Staates verbunden, dass das später zum Verhängnis für die Kirche werden sollte. Die Orthodoxe Kirche in Russland und Russland selbst gingen von Anfang an einen gemeinsamen Weg, mit allem was es an Gutem und Schlechtem mit sich brachte.

Man kann die Kirche nicht beschuldigen, dass sie sich später den Moskauer Zaren, als diese übermächtig wurden, widerspruchslos unterworfen hätte. Der Metropolit Filaret wurde, nachdem er Iwan dem Schrecklichen Tyrannei und Massenmord vorgeworfen hatte, von dessen Schergen ermordet. Anfang des 17. Jahrhunderts, als es wieder darum ging, ob Russland überhaupt als unabhängiger Staat weiterexistiert oder zur Ostprovinz des polnisch-litauischen Reiches würde, übernahm der Metropolit die Führungsrolle im Widerstand, da die Regierung wegen innerer Streitigkeiten völlig handlungsunfähig war.

Staatskirche von Peter d.Gr. bis 1917

Peter der Große, Liebhaber von allem, was aus nordeuropäischen protestantischen Ländern stammte, wollte auch die Kirche nach dem protestantischen Vorbild umformen. Hauptgrund war, dass nach diesem Modell der weltliche Herrscher auch Haupt der Kirche ist. Nach dem Tod des Patriarchen ließ er keinen neuen Patriarch wählen, sondern gründete ein Kirchenministerium – den Heiligen Synod, dessen Haupt ein vom Zar ernannter Beamter war. So existierte die Kirche als ein Teil des Staates bis zum Sturz der Zaren im Februar 1917. Mit dem Verlust der Unabhängigkeit büßte die Kirche weitgehend ihre Autorität bei der Bevölkerung ein. Die Bischöfe wurden zum geistlichen Fürsten, die Priester zu den Beamten, die ihren Sold vom Staat erhielten. Die Liturgie ersetzte fast vollkommen die Seelsorge wie auch Verkündigung des Evangeliums. Nach der Oktoberrevolution hat man einen Bauer, der bei der Zerstörung eines Kirchengebäudes mithalf, gefragt – wie kannst Du so was tun? Du wurdest doch als ein orthodoxer Gläubiger erzogen? Seine Antwort: „Man ließ uns in der Liturgie das Evangelienbuch küssen. Aber was drin steht, hat uns keiner gesagt.

Die Kirche war so tief in diese Mentalität verhaftet, dass bei dem ersten Konzil , das nach dem Sturz der Monarchie einberufen wurde, die Bischöfe nach dem Wahl des neuen Patriarchen nichts wichtigeres zu besprechen hatten, als die Farbe eines liturgischen Gewandes. Währenddessen tobte auf den Straßen Moskaus ein erbitterter Kampf zwischen den Bolschewiken und ihren Gegner und als die Rote Garde dabei war, Hunderte von den Offizieren und Studenten der Militärschulen zu exekutieren

Renaissance der Orthodoxie im 19. Jahrhundert

Trotz allem war der orthodoxe Glaube ein Teil des Lebens des russischen Volkes geworden. Er bestand nicht nur aus Bräuchen und Traditionen, sondern war ein lebendiger Glaube. Das Orthodoxe Christentum hat in Russland im 19. Jahrhundert eine wirkliche Renaissance erlebt. Viele denkende und suchende Leute haben vorhergesehen, was auf das Land zukommt. Sie hatten nicht nur Russland im Blick, sondern die Probleme der westlichen Zivilisation, nämlich die Folgen des Versuchs, ein Leben ohne Gott zu gestalten. Die religiös orientierten Philosophen und Schriftsteller haben eine Alternative angeboten. Sie wurden aber nur von wenigen gehört. Was der Versuch, das Leben ohne Gott zu gestalten, Russland und nachhinein der ganzen Welt einbrachte, wissen wir alle nur zu gut.

Die Religionspolitik des Kommunismus

Nach der Periode der Verfolgung und des Versuchs, den Glaube und die Kirche völlig zu vernichten, kam es in der Zeit des Großen Patriotischen Krieges ein Bündnis zwischen Kirche und Staat. Die Kommunisten hatten eingesehen, dass ihre Ideologie nicht genügte, um die Menschen für die Verteidigung des Vaterlandes zu mobilisieren. Sie waren gezwungen, an Patriotismus und Glaube zu appellieren. Die Kirche erhielt damit nicht nur eine Chance zum Überleben, sondern auch eine sehr begrenzte Freiheit. Sie konnte in den wenigen noch bestehenden Kirchen Liturgie feiern und Priester ausbilden. In den Priesterseminaren wurde zwar immer ein Zimmer für den KGB-Agenten reserviert, der dann versuchte, künftige Priester für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Aber er hat das eher mit Zuckerbrot als mit der Peitsche getan. Ein Bischof hat mir aus seiner eigenen Erfahrung erzählt, dass jemand, wie er selbst, sich weigerte, mit dem KGB zu kooperieren, nicht verfolgt noch dazu gezwungen wurde. Nur den Mitgliedern der Kommunistischen Partei und den Staatsbeamten war es verboten, eine Kirche zu besuchen. Andere konnten das tun. Da aber in der Schule eine sehr effiziente Atheismuspropaganda betrieben wurde, wurden viel Russen zu “gläubigen Atheisten.” Ich konnte als kleines Kind nicht verstehen, wieso meine Großmutter, eine intelligente Frau, an solche „Märchen glauben konnte“.

Die religiösen Traditionen überlebten den Kommunismus

Aber keine atheistische Propaganda konnte die Traditionen, die mit der Orthodoxie verbunden waren, ausrotten. Nach wie vor feierten fast alle das Osterfest. Bei einer Beerdigung erinnerte man sich an die Möglichkeit, dass mit dem Tod doch nicht alles vorbei wäre und etwas vom Menschen weiter existieren könnte. Über Gestorbenen wurde öfters gesagt: „Nach draußen war er zwar ein guter Atheist, aber nur Gott weiß, woran er in seinem Herzen geglaubt hat.“ Man konnte sogar in ein Kloster eintreten, was ein Mädchen in meiner Schule getan hat. Das hat zwar alle Pädagogen in den Ausnahmezustand versetzt, wieso niemand die religiöse Orientierung Schülerin erkannt hatte.

Als die Tausendjahrfeier der Taufe Russlands 1988 in großem Stil gefeiert wurde, haben wir verstanden, dass Gorbatschow mit seiner “Perestroika” doch ernst meinte.

Renaissance der Religion nach dem Ende des Kommunismus

In den neunziger Jahren kam es zu einem unglaublichen Wiederaufleben der Religiosität und des Interesses an der Religion, nicht nur der Orthodoxie. Es war die Zeit, als die Menschen in Russland die spirituelle und geistige Welt wieder entdeckten. Ein Russe, der buddhistische Mönch wurde, konnte sich ernähren, indem er auf Markt nach der buddhistischen Tradition das Essen erbettelte. Wahrscheinlich hat er mehr bekommen als viele Russen sich in diesen Jahren leisten konnten. Das war möglich, weil sich die Menschen damals so stark für die Religion interessierten, dass sie alles Religiöse unterstützten.

In den orthodoxen Kirchen bildeten sich Schlangen derer, die Taufe empfangen wollten. In dieser Zeit gab so gut wie keine Vorbereitung darauf, da es der Zahl der Leute schlicht unmöglich machte, sie auf die Taufe vorzubereiten. Vom Priester konnte man allenfalls ein paar Anweisungen hören, die auch manchmal nicht direkt mit dem Christentum zu tun hatten. Als ich sich selbst Taufe empfing, hat uns der Priester zu erklären versucht, dass es für die Frauen schlecht sei, sich zu schminken. Das sei eine Eitelkeit. Der Grund dafür, dass er gerade dieses Thema für seine Predigt gewählt hatte, war die Anwesenheit einer geschminkten jungen Dame, die sich auch taufen ließ.

Echte Religiosität und die Suche nach einem spirituellen Leben gingen Hand an Hand mit einem unglaublichen Aberglauben. Man wollte Kinder taufen, um sie vor Krankheit zu schützen. In den wilden neunziger Jahren, der Blütezeit jeglicher Form der organisierten Kriminalität, haben manchmal Kriminelle vor einem Überfall an verschiedene religiösen Gemeinde eine Spende gemacht, weil sie glaubten, so mit den Geistern gute Beziehungen zu pflegen.

Die orthodoxe Kirche musste sich selbst finden

Die Orthodoxe Kirche ging durch einen mühsamen Prozess der Erneuerung und der Selbstfindung. Da es nicht genug Priester für alle neugebaute Kirchen und Pfarreien gab, wurden viele junge Männer ohne jegliche theologische Ausbildung und geistige Vorbereitung geweiht. Ein anderes Problem waren die Beziehungen zum Staat. Es ist Tradition der Orthodoxen Kirche, enge Beziehungen zum Staat zu pflegen. Nach den Jahren der Verfolgungen fühlte sich der Staat verpflichtet, die Kirche zu entschädigen – es wurden mit Haushaltsmitteln viele neue Kirche gebaut, die berühmteste ist die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Sie wurde zum Symbol der Erneuerung des Landes erklärt.

Für viele Leute war die Kirche in dieser Zeit der einzige Ort, wo sie in dieser schwierigen Zeit Trost finden konnten. Deswegen war die Kirche die Institution, die bei den Bürgern am meisten Vertrauen genoss. Zwar gehen nicht sehr viele Leute regelmäßig zum Gottesdienst. Das liegt auch daran, dass bei den Orthodoxen sich die Religiosität etwas anders zeigt. Man kann fast jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit eine Kirche besuchen, um eine Kerze anzuzünden und ein paar Minuten stillzuhalten. Man kann, wenn man an einer Kirche vorbeigeht oder fährt, sich bekreuzigen. Das tun viele Menschen. Ich habe das an einer Kirche beobachtet, die neben einem Bankgebäude steht. Da kann man beobachten, wie junge hübsche, gut gekleidete Damen, die in dieser Bank arbeiten, aus ihren teuren Autos steigen und sich zu Kirche wenden, sich verbeugen und das Kreuzzeichen machen.

Neue Formen der Seelsorge und der Caritas

Langsam hat die Kirche angefangen, neue Formen der pastoralen Arbeit aufzubauen. Karitative Arbeit, Katechese, Sorge um die Armen, Kranken, Bedürftigen – alles, was für die Katholische Kirche eine Selbstverständlichkeit ist, war für die Orthodoxe Kirche etwas völlig Neues. In den Pfarreien haben einige Priester Waisenhäuser gegründet. Bei den Klöstern wurde den Obdachlosen, den Alkohol- und Drogenabhängigen eine Entwöhnungskur mit Unterkunft und Arbeit angeboten.

Kirchliche Medien sind erfolgreich

Die Kirche hat mit staatlicher Hilfe ein eigenes Fernsehen und mehrere Radiostationen gegründet. Diese stoßen auf gute Resonanz, weil sie eine Alternative zum Privaten Fernsehen mit seinen endlosen Serien und der Werbung wie auch zum stattlichen Fernsehen mit seiner Regierungspropaganda eine spirituelle Alternative bilden. In der U-Bahn kann man Werbung für die kirchlichen Fernseh- und Radiostationen finden wie auch Einladungen zu einem Orthodoxen Jahrmarkt. Dort kann man Erzeugnisse aus den klösterlichen Ländereien kaufen, gleichzeitig aber auch sich mit dem Priester oder orthodoxen psychologischen Berater treffen um mit ihm seine Probleme besprechen.

Probleme der großen Staatsnähe

Neben den Beispielen für eine gelungene Kooperation, wo Staat und Kirche für das Wohl der Gesellschaft zusammenarbeiten, gibt es auch weniger schöne Beispiele solcher Freundschaft. Sehr oft lässt sich die Kirche vom Staat zur Rechtfertigung seiner Politik einspannen. Fast alles, was der Staat tut, soll gut geheißen werden, ob es nun die Wirtschaft, das Land oder die Außenpolitik betrifft. Deshalb fühlen sich die Oppositionellen, ob sie nun gemäßigt oder radikal sind, der Kirche und sogar dem Christentum gegenüber fremd. Die extreme Erscheinung von dieser Entfernung ist das Phänomen des Russischen Islams. Es sind zwar noch wenige Tausende, Rechte wie Linke, die zum Islam konvertieren, da sie dort eine Ideologie des Kampfes gegen die Regierung finden. Viele treten zu den Protestantischen Kirchen, besonders zu den Baptisten über. Da steht die russische Kirche vor der neuen, ihr bis jetzt unbekannten Herausforderung der Missionsarbeit in einer pluralistischen Gesellschaft. Trotz der staatlichen Hilfe, es ist die Aufgabe der Kirche, die Menschen von ihrer Botschaft zu überzeugen.

Allerdings ist die Kirche trotz ihrer Nähe zum Staat und der Staat trotz seines Bemühens, ein neue gesellschaftliche Projekt zu starten, dass auf den “traditionellen Werten” beruht, sind sie sich doch nicht immer so nah. Ein Beispiel ist die Abtreibung, eine nationale Tragödie Russlands. 2015 wurden von 3 bis 4 Millionen Aborten durchgeführt. Die Kirche dringt selbst mit ihrer Forderung nicht durch, dass die Abtreibung nicht weiter vom Staat finanziert wird. Es handelt sich um einen Betrag von 2 Milliarden Rubel, der 25 Millionen Euro entspricht und aus der Krankenkasse bezahlt wird.

Die Kirche ist gut gerüstet, muss aber die Menschen erreichen

Die Probleme, vor denen die Kirche nach dem Zusammenbruch des Kommunismus stand, sind inzwischen zum großen Teil gelöst. Es gibt genug Priester, die Zahl der Klöster hat sich seit Anfang der neunziger Jahre verdoppelt. Die Kirche hat ihre karitativen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen aufgebaut, sie verfügt über eigene Medien.

Obwohl sie über die Medien verfügt, um die Menschen zu erreichen, hat sie bis jetzt nicht die Sprache gefunden, die die Menschen heute, vor allem die Jugendlichen erreicht, um ihnen die Werte des Evangeliums nahe zu bringen. Wie früher besteht die Religiosität in den Symbolen und Traditionen. So kann man überall Ikonen sehen – in den Wohnungen, in Krankenhäusern, in Autos. Sehr oft schreibt man ihnen eine eigene Kraft zu. Die richtige Ikone in Auto soll von den Unfällen schützen. Der Bedarf an religiöser Bildung ist groß.

Die Zahl derer, die sich als orthodox bezeichnen, liegt zwischen 60 und 80 % der Bevölkerung, auch wenn die Zahl der Gläubigen, die aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen, nur ein Zehntel beträgt. Oft wird die Orthodoxie mit der nationalen Identität gleichgesetzt.

Viele in Russland wollen, dass die Kirche und die religiösen Werte eine größere Rolle im gesellschaftlichen Leben spielen. Viele Russen vertrauen der Kirche. Ob die Kirche dem gerecht wird, hängt davon ab, dass auf die spirituellen und existentiellen Fragen der Menschen eine Antwort gibt und nicht nur sie nicht die Projekte der Gesellschaft unterstützt, sondern.



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