Kirche in Bad Wilsnack, F: explizit.net E.B.

Milieu und Freak-Faktor

Der Evangelist Johannes stellt uns zwei gegensätzliche Grundtypen von Milieus vor Augen: Kana in Galiläa, wo Jesus auf der Hochzeit ein Zeichen gewirkt hat und wo Leute bereits gesehen haben, was Jesus in Jerusalem alles getrieben hat. Ein «glaubensfreundlicher» Ort. Dagegen Kapharnaum, die nähere Heimat Jesu. Er selbst sagt dazu, das er dort keine Chance hat. Man will ihn nicht hören. Ganz egal wie sehr er sich ins Zeug legt. Ein «glaubensfeindlicher» Ort.

Jeder Mensch bewegt sich in einer bestimmten Umwelt: Ob Sportverein, Musikgruppe, Tanzfläche, Debattierclub, Business-Welt, Gewerkschaft  – man lebt in Gepflogenheiten. Man kennt sich dort, man weiß, wer man in diesen Kreisen ist. Und wehe, man bricht aus den Erwartungshaltungen und Handlungsmustern aus! Im Sacko zum Training, mit Sicherheitsschuhen in die Disco, mit Tennissocken ins Meeting. Kaum auszudenken. So erhöht man seinen «Freakfaktor». Und Glaube – das ist schlimmer als alles zusammen. Der gehört, wenn überhaupt in die Kirche oder, noch privater, nur in die eigenen vier Wände. «Freakfaktor», worauf kommt‘s an?

Nun kommt der königliche Beamte von Kapharnaum zu Jesus. Er begibt sich zum «Freak», zum Milieufremden. Irgendwie ist doch was nach Kapharnaum gesickert. Er hatte von Jesus gehört. Und es ist schon komisch: Der Sohn des Beamten liegt im Sterben. Er braucht einen Arzt für ihn. Warum kommt er dann zu Jesus? Insbesondere wenn man bedenkt, dass Jesus zwar Zeichen gewirkt hat: Wasser zu Wein und irgendwas im Tempel in Jerusalem und was noch alles. Aber eine Heilung war bisher nicht dabei. Jesus als Arzt? Wie kommt der Mann darauf?

Es muss schon viel in einem Menschen vorgegangen sein, um so einen Schritt zu machen. Wer weiß? Vielleicht hat er schon Ärzte ausprobiert. Vielleicht hat nichts geholfen. Wen hat er schon aufgesucht? In der Verzweiflung – es gibt nicht viele Verzweiflungen, die größer sind, als sein eigenes Kind sterben zu sehen – da greift man nach jedem Strohhalm. Man fängt bei der Schulmedizin an, geht über Heilpraktiker und schließlich zu Esotanten. Der «Freakfaktor» nimmt zu. Jesus ist der absolute Freak. Steigerung ist nicht möglich. Je höher der Freakfaktor, desto weiter entfernt man sich von seinem Milieu. Man wird unverständlicher.

In der Szene hier geht es aber noch einen Schritt weiter. Der Mann wendet sich mit seiner Bitte an Jesus. Er vertraut sich Jesus an. Und Jesus setzt den Glauben voraus. Es geht nicht einfach um eine Heilmethode, die Jesus anwenden soll. Es ist keine «Technik», die Jesus über andere «Freaks» hinaushebt. Wer sich auf Jesus einlässt, muss mit seinem Milieu brechen; muss von Kapharnaum nach Kana gehen.

Zunächst ächzt Jesus: Noch so einer, der erst Zeichen sehen und dann glauben will. Es muss umgekehrt sein. Und zur Überraschung der Leser: Genau das kommt. Der Beamte glaubt ihm. Er lässt sich auf die fremde Umwelt ein. Um das zu sehen, muss man genau lesen. Der biblische «Slang» hat sich schon sehr abgenutzt. Der Beamte sagt: «Herr, komm hinab, ehe mein Sohn stirbt.» Er nennt Jesus Herr – was die griechische Bibelübersetzung für den Gottesnamen JHWH gebrauchte. Er nennt ihn beim Gottesnamen. Kyrie! Er hat den Glauben angenommen.

Was für eine Wandlung hat stattgefunden? Die Worte des Beamten lesen sich wie das waschechte Gebet eines verzweifelten Menschen: «Herr, komm hinab, ehe mein Sohn stirbt!» Denken wir einen Moment Jesus weg. Hier ruft ein Mann, der mit seinem Latein am Ende ist, nach der letzten aller Möglichkeiten! Er ruft mit der Not der Verzweiflung. Er betet.

Zweierlei: Ein Christ, der sich nicht in dem königlichen Beamten wiederfindet, hat noch nicht dessen Wandlung erlebt. Er nennt sich Christ, aber es ist mehr ein Titel für eine Vereinsmitgliedschaft. Echtes Christsein setzt Verzweiflung voraus. Nur wer die Verzweiflung erlebt hat, kann sich von seiner Umwelt lösen und neu mit ihr verbinden. Es gibt diese Art Verzweiflung wie sie hier geschildert ist: seelische Not der Liebe. Aber es gibt auch noch eine andere Art von Verzweiflung: des Verstandes und des Intellekts. Der katholische Philosoph Dávila sagte: «Jeder große Christ beherbergt zwei Skeptiker in seiner Brust und hat noch reichlich Platz für das Christentum.» - Bei beiden Arten wurde der Mensch besiegt. Er hat eine Niederlage erlitten. Das Vertrauen in die Umwelt wurde radikal vernichtet. Die Ärzte, die helfen nicht, die Philosophie, die Medizin des Geistes, rettet nicht. Stück für Stück erleidet der Mensch Niederlagen. Bis zu dem Punkt, wo er mit seinen Niederlagen und seiner Bitte zu dem kommt, der alles wenden kann. Das Christentum ist nichts für Gewinner. Das Christentum ist etwas für Verlierer, für Bezwungene. Und es ist auch klar: Wer diese Niederlagen in seinem Leben nicht erlebt hat, der hat es schwer, Christ zu werden. Es sollte niemanden verwundern. Der Sieger, der Erfolgreiche kommt nicht einfach zu Gott. Er macht sich erst auf den Weg, wenn ihm der Pokal aus den Händen gerissen worden ist.

Neben der Verzweiflung bedarf es der Bitte. Das ist auch vielen nicht klar. Gott ist oft weit weg: Ja, der hat irgendwann mal den ganzen Zirkus, den wir Weltgeschichte nennen, angeschubst. Vielleicht hat er sogar mal in den Lauf der Welt eingegriffen. Aber heute? Nee. Der da oben ist doch ganz weit weg. Wer von Gott nichts zu erwarten hat, kann ihn auch nicht erleben. Ohne Bitte und Erwartung wäre der Mann nicht nach Kana gekommen. Ohne Bitte und Erwartung wäre er nicht gewandelt worden. Ohne Bitte und Erwartung wäre seine Bitte nicht erfüllt worden. Ohne Bitte und Erwartung nur Niederlage.

Dann kommt der Rückweg. Zurück in die Heimat. Der Mann erreicht seine Umwelt völlig anders, als er aufgebrochen war. Er ging mit Verzweiflung im Herzen und vagen Gerüchten zur letzten Möglichkeit der Rettung. Zurück ging er mit Glauben im Herzen und dem Bekenntnis, dass Jesus wirklich der Herr ist. Worauf trifft er? Sein «Haus» hat das Wunder schon erlebt. Es hat sich schon etwas verändert. Der Beamte trägt die Wandlung weiter. Sein Glaube führt dazu, dass sein ganzes Haus sich ihm angleicht. Sein erstes Milieu, die erste Umwelt, d.h. seine Familie, verändert der Glaube, d.h. Gott durch ihn.

Ach, wie oft sind Christen Einzelgänger in ihrer Familie! In der Heimat zählen sie nicht viel. Jesus weiß das. Und er hat für solche Menschen ein Rat: Verzweifelt mehr! Erleidet Niederlagen! Und bittet und erwartet viel von ihm! Begebt euch auf die Reise des königlichen Beamten. Dann heißt es auch für sie: «Und er selbst wurde gläubig und sein ganzes Haus.»

Übrigens: Das Gebet «Herr, komm herab!» hat sich in Jesus erfüllt. Er ist der Gott, der herab gekommen ist, damit wir nicht sterben, sondern teilhaben an dem Leben Gottes.

Text des Evangeliums



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