Jesus, S. Vitale Ravenna, F. explizit.net E.B.

Lectio ultima Jesu

Wenn ein Professor sein letztes Vorlesungssemester vollendet hat, wird ihm eine letzte universitäre Vorlesung gewährt: die lectio ultima. Auch Jesus, als er seine Lehrtätigkeit mit Leiden, Tod und Auferstehung beendet hatte, gibt im Anschluss eine lectio ultima. Worin besteht seine letzte Lehre?

Wer öfters solchen Veranstaltungen beigewohnt hat, findet im Evangelium nach Matthäus erstaunliche Parallelen. Die Schülerzahl ist recht erlesen: die Elfe. Der Vorlesungssaal wird auch beibehalten: der Berg. Auch die Verehrer sind zusammengekommen: Sie fallen ihm zu Füßen und beten ihn an. Und doch sind auch andere dabei: einige Zweifler. Dann beginnt die Lesung.

An dieser Stelle hören aber auch die Parallelen auf. Jesus fordert seine Hörer zweimal auf zu lehren: Die Völker sollen seine Vorlesungen durch die Apostel hören und sie sollen alles lehren, was Jesus den Aposteln geboten hat. Welcher Professor hat jemals seine letzte Lesung mit solchen Worten ausgestattet? Und am Ende fügt er noch die Drohung bei, er werde alle Tage bei seinen Schülern sein, bis dieses Zeitalter vollendet ist. Bei einer lectio ultima würde man doch eher ein Auf-nimmer-wiedersehen erwarten.
Jesus ist ein anderer Lehrer. Er spricht nur vier Sätze. Darin liegt eine Sprengkraft, größer als alle Bomben dieser Welt. Mehr Worte braucht er nicht, um seine Lehrlinge mit seiner Weisheit auszustatten. Wie geht das?

Erster Satz: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde.

Dieser Lehrsatz erklärt sich nur in der Spannung von Leiden, Tod und Auferstehung. Jesu Tod war nicht gerade das, was man von einem Mächtigen erwartet hätte. Er starb nicht in Prunk, Ruhm und Ehre, sondern in Armut, Ruch und Schande wie ein Verbrecher am Galgen des Kreuzes. Ein König mit Macht sieht anders aus. Doch die Auferstehung zeigt eine völlig andere Art von Macht: Jesus hat nicht die Reiche dieser Welt erobert, sondern den Tod selbst besiegt. Sein Reich hat nicht die Ausdehnung der EU oder des Imperium Romanum gehabt. Aber er ist in den Tod gegangen und der Tod konnte ihn nicht halten. Er lebt, obwohl er getötet wurde. Seine Macht steht über Tod und Leben. Sein Königtum ist größer als alle Reiche der Welt jemals werden können. Seine Auferstehung zeigt: Größere Macht hat niemand; die Macht über das Leben.

Zweiter Satz: Geht und lehrt alle Völker und tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Dieser Lehrsatz baut auf dem vorigen auf: Das Reich Jesu wird durch eine andere Macht und Herrschaft regiert. Der Lehrauftrag der Jünger besteht darin, die Macht und die Herrschaft Gottes zu verkünden. Das ist sozusagen die Kopfseite des Geschehens. Sie sollen die Einsicht in das Königtum Jesu in allen Königreichen verbreiten. Dann folgt die Herzseite: Die Jünger sollen Menschen unter die Herrschaft des dreifaltigen Gottes stellen. In der Taufe bekommt der Mensch einen neuen Namen, der im Buch des Lebens eingezeichnet worden ist. Was die Jünger lehren, ist das Leben Jesu. Was die Getauften empfangen, ist das Leben Jesu. Durch die Taufe wird das Leben der Getauften umgewandelt in das Leben Jesu.

Dritter Satz: Und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.

Ein König richtet seine Herrschaft auf durch das Gesetz. Er gibt seinem Volk eine Ordnung. Die Zugehörigkeit eines Volkes zu ihrem Herrscher zeigt sich, indem das Volk die Gesetze des Königs befolgt. Es zeigt durch das Einhalten der Gesetze ihren Gehorsam. Wenn das Volk nicht auf die Gesetze des Königs achtet, dann akzeptiert es den König nicht als ihren König. Sie folgen entweder jemand anderem oder sie leben in der Anarchie, in der Unordnung. Das Besondere an der Ordnung und den Gesetzen des Königs Jesus besteht darin, dass Jesus nicht einfach Gesetze geben hat, sondern sein eigenes Leben das Gesetz ist. Sein Leben gibt die Ordnung an. Wer also dem König Jesus folgen will, muss sein eigenes Leben an dem Leben Jesu messen, ja gar nachleben.

Vierter Satz: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.

Der vorige Lehrsatz hat einen Anspruch erhoben, der den Hörer zur Verzweiflung bringen müsste. Denn er soll leben, wie der König selbst lebt. Der Hörer wird zum König gemacht. Doch wie bereits festgestellt: Jesus ist ein anderer König. Er hat nicht das Leben eines Menschen gelebt, sondern das Leben Gottes gelebt. Niemand ist wie Gott. Jesus verlangt von uns, wie Gott zu leben. Diesem Anspruch kann niemand genügen.
Doch es gibt Hoffnung: In der Taufe hat der Mensch das Leben Jesu und damit das Leben Gottes, den Heiligen Geist, empfangen. Der Heilige Geist verwandelt das Menschenleben in das Leben Gottes. Jesus selbst handelt durch den Heiligen Geist im Menschen. Und darin besteht auch das ganze Königtum Jesu: Er herrscht, indem er seinem Volk das Leben Gottes schenkt. Je mehr also ein Getaufter das Leben Jesu nachlebt, desto mehr steht er unter der Herrschaft Jesu; und desto mehr wird die Gegenwart Jesu als König sicht- und spürbar.

Die lectio ultima Christi bezeichnet somit nicht nur die letzten Worte Jesu an seine Jünger. Es handelt sich nicht nur um das letzte in einem zeitlichen Sinn. Vielmehr ist die Abschlussvorlesung das letzte Wort Gottes an den Menschen. Größeres kann man nicht sagen: Ihr werdet Mitkönige und Mitherrscher mit Gott sein. Jesus verspricht den Jüngern etwas viel Größeres als das, was wir herkömmlicherweise Paradies oder Himmel nennen. Er verspricht, Anteil an der Macht zu erhalten, die Himmel und Erde erschaffen hat. Der Christ ist nicht nur einfacher Bewohner, mit allen bürgerlichen Rechten, des Himmels. Der Christ ist durch Christus zum Mitschöpfer des Himmels und der Erde geworden.



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