Einen blutigen Samstag gab es in Ägypten. In Nasr City habe die Polizei an diesem Tage 70 Muslimbrüder erschossen. Innenminister Muhammad Ibrahim bestritt diese Angaben. Webvideos und Fotos beweisen es, wie beiderseitig Waffen wirkten: aus den Reihen der Demonstranten ist geschossen worden, auf die Polizei – ein Video zeigt einen sehr stark verwundenten Polizeioffizier -, die massiv Tränengas einsetzte und zurückschoß. Seit der Absetzung von Präsident Muhammad Mursi überstieg die Totenzahl nun 100 Menschen.
Verteidigungsminister Abd al-Fattah as-Sisi rief samt Führern der Tamarrudrevolte zum Freitagsprotest „gegen den Terror“ (der Muslimbrüder) auf, die weiter den entmachteten Muhammad Mursi im Amt sehen wollen. Hunderttausende kamen und gaben as-Sisi das „Mandat der Straße“, diesen Terror zu bekämpfen. Der Appell erging am Mittwoch auch nach dessen live gesendeter Rede in Alexandrias Militärakademie als Tweet an das Volk, sich am Freitag in den Plätzen zu treffen und offiziell Mursis Aburteilung und die Hilfe für die bewaffneten Kräfte zu fordern, um Terror zu bekämpfen und das Land zu säubern.
Brückensperre
Die getrennten Aufmärsche beider Seiten blieben am Freitag weitgehend friedlich, wobei abends acht Tote zu beklagen waren. Sodann wandten sich vor Mitternacht Muslimbrüder der Brücke des 6. Oktober zu und schlossen die Hauptschlagader des Verkehrs der City.
Minister Ibrahim: „Wir mußten die Blockade auflösen.“ Er werde dafür sorge, daß solche „sit-ins“ nicht mehr den allgemeinen Verkehr lahmlegen, und zwar ohne so viele Opfer.
Samstagabend berichtete die New York Times über Ahmad Hajjajs Freund Ashraf. Beide waren maskiert und nahmen Essig gegen das Tränengas mit. Ashraf, sagte Ahmad, sehnte sich nach dem Märtyrertum; und hielt sich nicht zurück. Schließlich traf ihn eine Kugel ins Herz. Videos bildeten Tote ab. Dies gerät auch zum Medienkrieg. Eigenartig ist, daß manche westliche Medien tendenziös für die Islamisten Partei nehmen. Jenes Blatt titelte „Hunderte in Kairo auf der Mursi-Demonstration erschossen“, was es später korrigierte.
Ibrahim erklärte, wieder ein Sonderorgan der Staatssicherheit einzusetzen, das Islamisten beobachten werde. Dieses gab es schon zu Husni Mubaraks Zeiten und es war berüchtigt. Ohne Sicherheitsagenturen mit einem „politischen Fokus“, führte der Innenminister aus, funktioniere die Landessicherheit nicht. Indes hier Warnlampen aufblinken müssen, sei erwähnt, daß weithin auf Islamisten gerichtete Agenturen wirken wie die Fusion Centers in Amerika oder das Berliner Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum seit Ende 2004.
Hier zeigt sich der Konflikt zwischen gezielten Störaktionen und der nötigen öffentlichen Sicherheit, bei dem die Balance zulasten der Rechte und Freiheiten verschoben wird. Das ist ebenso eine enorme Gefahr, die der Terrorismus heraufbeschwört. Er zwingt Gruppen und Individuen zur vorauseilenden Abwehr. Über staatliche Bürokratien vermittelt, bleibt sie mißbräuchlich. Nicht nur wird jeder zu Zusatzkosten gezwungen, sondern auch dazu, sich vorbeugend anzupassen. Ob Abwehr und Versagen gerechtfertigt sind, ist stets neu zu kontrollieren. Aber alle werden unterworfen, sich für Sicherheit ausforschen zu lassen. Oft müssen Bürger dies begrenzen, um ihre Gesellschaft nicht von innen her zu zerstören.
Anklage Mursis
Laut dem Blatt Al-Ahram vom Freitag ist Muhammad Mursi, der in der Lotusrevolte von 2011 gegen den Präsident Mubarak nach zwei Tagen Haft aus dem Gefängnis in Wadi Natrun entfloh, der Spionage angeklagt worden. Richter Hasan Samir behauptete, dieser konspirierte mit der militanten Hamas. Sie hätten am Nil aggressive Anschläge gegen die Polizei ausgeführt, Offiziere entführt oder getötet. Haftbefehle ergingen auch für die neun führenden Muslimbrüder: Aufhetzung zur Gewalt und zum bewaffneten Protest. Mursi ist bis Mitte August in Haft. Hamassprecher Salah al-Bardawil wies alles zurück wie auch Jihad al-Haddad von den Muslimbrüdern. Zugleich installierte das Militär in Kairo neue Kontrollpunkte. Nicht wenige begrüßten die Soldaten und ließen sich mit ihnen ablichten. Weiterhin bleibt das ägyptische Militär unter den Nichtislamisten ausgesprochen populär.
Antibewegungen
Taten von Islamisten sah man in Mursis Kairo. Und Donnerstag in Tunis, wo nach Shukri Bilaid noch Muhammad Brahmi als zweiter liberaler Führer getötet wurde. In Rashid al-Ghannushis an-Nahda-Partei sind auch Extremisten, die Tunesiens volle Islamisierung suchen. Dies Klima wirkte in den Anschlägen, wo die mit der al-Qaida liierte Ansar ash-Sharia nach Übergriffen im libyschen Benghazi zudem auch die US-Botschaft in Tunis angriffen, 100 Fahrzeuge ansteckten und die amerikanische Schule ausgeplündert haben.
.
Al-Ghannushi verurteilte zwar das Verbrechen als einen Angriff auf den „demokratischen Übergang“. Auch unternahm Tunis seit Mai einige Aktionen gegen die lokalen Gruppen der Ansar ash-Sharia. Jedoch greift eine Destabilisierung des Landes um sich. Umgekehrt erwächst eine Jugendbewegung, die sich die ägyptische Tamarrudrevolten zum Vorbild genommen hat und betont, daß sie einen Islamstaat keineswegs als ihr Lebensziel sehen.
Volkskonsens
Am Donnerstag entschied die Obama-Administration, sich nicht formell festzulegen, ob der Sturz Mursis durch das Militär ein Coup sei. Damit kann die Hilfe, alles in allem 1,6 Milliarden Dollar, weitergehen. Jedoch barg die Begründung eine irreführende Formel: man ermutige die neue Interimsregierung, rasch zu einer stabilen, demokratischen, durch Zivilisten geführten und inklusiven Regierung überzugehen. Meint die Inklusion wieder die Islamisten, wenn nicht die Muslimbrüder selbst, die inzwischen sogar durch Forscher zu einer „Sozialbewegung“ erhoben worden sind? Dies waren sie nicht, sondern in erster Linie eine „Moschee-plus-Machtbewegung“, die für ihre Massenbasis in Sozialbereiche ging und dort Macht zu gewinnen. Jedoch blieb es ihr Ziel: ein Gottestaat samt Scharia.
Als General as-Sisi zu Protesten gegen den Terror der Muslimbrüder aufrief, hörte man aus Washington, wegen der Lage die Lieferung von vier (der 20) F-16 Jets auszusetzen. Aber die gemeinsamen jährlichen Manöver blieben. Hier sei an Amerikas Erklärung der Unabhängigkeit erinnert, durch die ihre 55 Unterzeichner in Philadelphia „Hochverrat“ begingen. Alle Menschen seien gleich geschaffen mit unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und Glück. Um diese zu sichern, würden Regierungen eingesetzt. Diese leiteten ihre Macht vom Konsens der Regierten her. Wirke eine Regierung zerstörerisch, so sei es das Recht des Volkes, diese zu ändern, abzusetzen oder eine neue Regierung zu bestellen, die Sicherheit und Glück bewahrt - nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht.
Wolfgang G. Schwanitz
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!