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Gegengelesen: Aussterbende Arten

(explizit.net) Das Leben beginnt damit, dass es jemanden gibt, der den Weg dahin ebnet. Mit solchen Aufgaben kennen sich Hebammen aus. Schon Sokrates war fasziniert von dieser Tätigkeit, die seine werte Mutter ausübte und verstand sein Philosophieren als Mäeutik, also Hebammenkunst. Dieser Beruf stirbt nun aus wie viele andere Arten auch. Wer die Arbeit einer solchen Frau, es gibt vereinzelt auch Männer, die Hebammen oder Geburtshelfer sind, mal miterlebt hat, der weiß, welch große Kunst und Lebensweisheit diesen Beruf auszeichnet.

(explizit.net) Das Leben beginnt damit, dass es jemanden gibt, der den Weg dahin ebnet. Mit solchen Aufgaben kennen sich Hebammen aus. Schon Sokrates war fasziniert von dieser Tätigkeit, die seine werte Mutter ausübte und verstand sein Philosophieren als Mäeutik, also Hebammenkunst. Dieser Beruf stirbt nun aus wie viele andere Arten auch. Wer die Arbeit einer solchen Frau, es gibt vereinzelt auch Männer, die Hebammen oder Geburtshelfer sind, mal miterlebt hat, der weiß, welch große Kunst und Lebensweisheit diesen Beruf auszeichnet.

Die Versicherungen wollen die Hebammen nicht mehr versichern, die können jedoch nur ihrer Arbeit nachgehen, wenn sie eine Berufshaftpflicht abgeschlossen haben, die ist inzwischen jedoch so hoch, dass der Stundenlohn unter die Niedriglohngrenze fällt. Zwischen 3000 und 3500 freiberufliche Hebammen gibt es in Deutschland noch. Die anderen 19.000 sind in Krankenhäusern angestellt. Die Politik macht seit Jahren mal wieder nichts, sie geht nicht schwanger mit einer Lösung, sondern vertraut auf das Prinzip Aussitzen. Irgendwann werden die Hebammen trotz Idealismus aufgegeben haben und sind ausgestorben. Ganz anders ergeht es den Hochschulrektoren, die als Geburtshelfer für die Wissenschaft angestellt sind, die haben in NRW ihr Salär seit 2004 mächtig erhöht, waren es mal ca. 88.000 Euro im Jahr, so sind es jetzt bis zu 152.000 Euro.

Die Räder stehen still

Andere Berufe finden sich schon nicht mehr im Branchenbuch, die Amme stillte die Kinder und pflegte sie dann auch, der Wagner machte einst Räder, der Harzer sammelte im Wald Harz, das für die Herstellung von Teer und Terpentin notwendig war, der Köhler machte aus Holz Holzkohle, der Küfer machte Fässer, der Schriftsetzer war für den guten Buchdruck zuständig, der Bremser sorgte dafür, dass der Zug anhielt, Kesselflicker schimpften nicht nur, sie reparierten Kupferkessel und ähnliches aus Kupfer.

Contenance bewahren

Nicht nur Berufe sterben aus, auch die Sprache findet sich im Leichenzug. Wer redet noch vom Bonvivant, dem Lebemann. Sagt jemand noch, dass etwas wohlgeraten sei? Wohlfeil möchte der Wörterretter repetieren, was schon fast vergessen war. Wer trifft sich noch zum Stelldichein? Wer poussiert mit der Holdseligen und springt für den Backfisch in die Bresche? Und haben die Hebammen immer weniger zu tun, weil schon die Sprache nicht mehr so romantisch ist, sich Paare deshalb nicht mehr finden und Kinder keine Option mehr sind?

Die guten alten Zeiten?

Manche mögen von vergangenen Zeiten träumen, wo alles besser war. Die Berufe wie Köhler, Harzer, Kesselflicker und andere waren ganz und gar nicht angesehen. Die Menschen lebten außerhalb des guten Lebens. Die Hebamme jedoch steht für das große Geheimnis des Lebens. Sie ist ein Sinnbild für alles, was werden soll, was ins Leben hinaus tritt. Eigentlich müsste eine solche Profession hoch dotiert sein, doch wer am Ende steht, hat mehr in der Tasche. Bestatter klagen selten.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Ohne Geburt wären wir nicht und ohne Hebamme hätte manche Frau die Geburt gerne verschoben. Mancher Wonneproppen hätte wieder kehrt gemacht, weil es drinnen gemütlicher als draußen war. Väter hätten sich gerne entzogen, weil es so eine Frauensache ist. Sokrates wäre gar nichts eingefallen, hätte er nicht an seine Mutter gedacht, die ebenso wie er aus den Menschen das herausbrachte, was in ihnen steckte. Und selbst bei innerer Leere konnte der sokratische Dialog wie eine Hebamme wirken: Der Nihilismus wurde geboren. Was wäre aus der Geistesgeschichte geworden, wäre die Mutter von Sokrates z. B. Engelmacherin gewesen? Auf welche Gedanken wäre Sokrates dann gekommen? Hätte er das neurochirurgische Messer erfunden, mit dem er nicht rasiermesserscharf das Überflüssige abtrennt, sondern jeden Gedanken in radice entfernt? Sokrates war der Sohn einer Hebamme und die abendländische Philosophie ist lediglich eine lange Fußnote zu dem, was Mama Sokrates ihrem Sohn als gesammelten Erfahrungsschatz ihres Berufes mitgab.

<emphasize>Thomas Holtbernd</emphasize>



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